Düsseldorfer Geschichten Fall und Aufstieg eines Roma-Jungen

Düsseldorf · Orhan Jasarovski wurde einst aus Meerbusch nach Mazedonien abgeschoben. Die RP berichtete damals über den Roma-Jungen, der an Kinderlähmung erkrankt war. Inzwischen ist er erwachsen und zurückgekehrt. Er hat sein Germanistik-Studium mit Bestnote abgeschlossen und will nun promovieren.

Orhan Jasarovski lebte noch nie ein normales Leben. Als Kind nicht, und auch jetzt nicht, als Erwachsener. Denn Orhan ist Rom, Angehöriger des Volks der Roma. Doch nicht nur das. Orhan ist behindert, hat nach einer Kinderlähmung Folgeschäden zurückbehalten. "Schiefes Bein" rief man ihm in seiner Heimatstadt Skopje hinterher. An der Grundschule in Meerbusch — die er besuchte, nachdem er mit seiner Familie aus Mazedonien geflohen war — nannte ihn ein Mitschüler aufgrund seiner dunklen Hautfarbe "Brathähnchen". Schon damals fiel Orhan wegen seiner Lernbereitschaft, seines starken Willens und seiner Intelligenz auf. Und wegen seines unbändigen Wunsches zu studieren. Hinter dem steckte ein ehrgeiziges Ziel: "Ich wollte eine wichtige Person werden, die die Leute schätzen und lieben. Um das zu werden, habe ich mir große Mühe gegeben."

Orhan wollte es schon immer all jenen zeigen, die da glaubten, ein Rom wie er tauge doch sowieso nichts. Gerade mal ein halbes Jahr brauchte Oran, um richtig Deutsch zu lernen. Er hatte Glück, denn in Meerbusch bei Düsseldorf, wohin seine Familie als Flüchtlinge eingewiesen worden war, lebten nur wenige Ausländer. So dass sich engagierte deutsche Nachbarn intensiv um ihn und seine Familie kümmern konnten. "Wir hatten jeden Nachmittag Hausaufgabenbetreuung durch ehrenamtlich arbeitende Lehrer", erinnert sich Orhan. Später erst erfuhr er aus einem Zeitungsartikel, "dass Meerbusch zu den reichsten Gemeinden Deutschlands gehört. Damals dachte ich noch, die großen Villen dort, die feinen Wohnungen, das sei normal in Deutschland, das sei überall so."

"Wir sind Menschen, wir brauchen keine Almosen"

Vor der Abschiebung, etwa zu der Zeit, 1993, lernte ich Orhan kennen. Einen 13-jährigen vorwitzigen, altklugen Jungen, der auffiel inmitten der anderen Roma-Kinder. Dadurch, dass er sich zwar nur humpelnd vorwärts bewegen konnte, sein Defizit aber durch kluge Sprüche und wache Blicke wieder wett machte. "Wir sind Roma, geschätzt nur wie ein bisschen Staub", hatte er mir mit einem traurigen Blick hingeworfen, um weiter konzentriert in sein Schulheft Sätze zu schreiben wie die: "Der Igel verkriecht sich langsam in seinem Laub. Die Schwalbe fliegt in die warmen Länder."

Gewitzt war der kleine Kerl, wodurch auch ein Mitglied des Neusser Flüchtlingsrats auf ihn aufmerksam wurde. Oberstudienrat Michael Stoffels war eines Tages zu Besuch in die Container-Unterkunft der Roma-Familien gekommen und hatte, wie üblich, Schokolade an die Kinder verteilt. Nur ein Junge hielt sich abseits, Orhan. Er erzählt: "Ich blieb stehen. Er hat das bemerkt und gefragt, wieso kommst du denn nicht? Meine trotzige Antwort war, ja wegen einer Schokolade soll ich Ihnen hinterher laufen? Wir sind Roma. Wir sind auch Menschen. Wir brauchen keine Almosen. Das hat ihn so begeistert und fasziniert, dass er mir hinterher gelaufen ist." Michael Stoffels ist seitdem Orhans engagiertester Gönner und Unterstützer. "Orhan war Schüler an unserer Schule", erinnert sich Gesamtschullehrerin Barbara Leiditz. "Er war ein ungewöhnlicher Junge. Dunkelhaarig, bisschen dunkle Haut. Er fiel durch besonders artikuliertes und nachdenkliches Sprechen auf. Orhan war kein wüstes, lustiges Kind, sondern ruhig, nachdenklich, angenehm."

Mit einem für einen Jungen ungewöhnlichen Ziel: "Als ich ihn fragte, was er denn mal vorhätte, da hat er mir geantwortet: Ich möchte mein Volk retten. Da war der im sechsten Schuljahr."

Schon damals rezitierte Orhan Reime, die er auswendig konnte und die ihn berührten. An einen erinnert er sich auch heute noch, weil es "um ein deutsches Mädchen geht, das die Züge einer Zigeunerin verkörpert. Um Friederike Lügenmaul, die frech und faul war. Schmutzig auch noch obendrein, so soll doch kein Mädchen sein". Er wolle immer nur die schönsten Wörter ausdrücken, hatte Orhan mir bei dem Gespräch im Jahr 1993 gesagt, und mich vertrauensvoll mit seinen großen schwarzen Augen angeguckt.

Kurz darauf wurde er abgeschoben, der anhaltende Protest an seiner Schule, Eingaben an Politiker — all das hatte nicht geholfen. Wegen eines "erheblichen öffentlichen Interesses", so stand es in der Ordnungsverfügung des Rhein-Kreises Neuss, musste die Familie Jasarovski zurück nach Skopje. Seitdem hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Bis vor einigen Wochen, als ich Orhan Jasarovski erneut traf. Aus dem zartgliedrigen Jungen war ein 30-jähriger, stämmiger junger Mann geworden, der gerade eine Universitäts-Karriere anstrebt. Und der sich, das war nicht zu übersehen, in Deutschland und im Deutschen auf sicherem Parkett bewegt. Seine Augen wirkten, als wären sie noch tiefschwärzer geworden. Ein blitzweißes Hemd guckte aus dem schwarzen Jackett heraus, als er mir in der Wohnung seines Doktorvaters Daniel Hoffmann entgegenkam.

Anfangs beantwortet er eher widerstrebend meine Fragen danach, wie denn sein Leben in den vergangenen 17 Jahren seit seiner Abschiebung verlaufen ist. Doch bald schon wird er lebhaft, gestikuliert, lacht, stöhnt bei mancher Erinnerung schmerzhaft auf. "Ich versuche das immer zu verdrängen mit der Abschiebung", beginnt Orhan. "Es war schlimm. Also die Polizei kam und hat uns genommen. Das geht mir wirklich, wenn ich mich zurückerinnere, sehr nah. Mazedonien war fremd. Die Sprache musste ich noch mal erlernen. Und wieder Fuß fassen. Wir standen vor dem Nichts. Wir hatten nur das Geld, das die Osterather Kirchengemeinde gesammelt hatte. Das waren damals 1000 D-Mark."

Lehrerin Barbara Leiditz wusste 1993, was Orhan in Skopje erwartete und machte sich große Sorgen. "Wir hatten uns ja unabhängig von Orhan vorher schon mit der Situation in Skopje beschäftigt. Und es war klar, dass die Lebensbedingungen für Roma da ganz, ganz schwierig waren. Für den Orhan nochmal in besonderer Weise schwierig, weil er dort medizinisch absolut gar nicht so versorgt werden konnte, wie es nötig war. Er hatte ja zusätzlich noch eine Epilepsie zu seinen Kinderlähmungserscheinungen."

An einem kalten Februartag 1994, bei 20 Grad minus, kam Orhans Familie in Skopje auf dem Flughafen an. Zunächst kamen sie bei einem Onkel unter, "der hatte nur ein Zimmer. Und er war schon zu zehnt. Und dann kamen wir noch zu viert dazu. Wir waren 14 Leute in diesem Zimmer." Ein unhaltbarer Zustand. Orhans Mutter hatte ihren Kindern eingeschärft, nur ja nicht nach Essen zu fragen. Denn die Verwandten besaßen selbst nur das Nötigste. So gingen sie hungrig ins Bett. Traurig und verzweifelt. Die Familie fand kurz darauf eine andere Bleibe. Konnte sie von dem Geld bezahlen, das ihr die evangelische Kirchengemeinde Osterath bis zum Jahr 2000 jeden Monat schickte.

"Man muss sich das vorstellen, die Roma leben ja in Ghettos", erzählt Orhan weiter. "In der Hauptstadt Skopje gibt's zwei große Ghettos. Eins in Topahana. Und eins in Shutka. Dort gibt es keine Infrastruktur, keine Kanalisation, kein warmes Wasser. Das ist heftig. Als wir 1994 ankamen, war es mitten im Winter und überall war Schnee und Matsch. Und die Leute hatten nicht mal Türen, sondern nur Decken, die sie vor die Türöffnungen hingen. Sie lebten in Lehmhäusern. Und es war heftig kalt."

Der ganzen Familie fiel es nicht leicht, sich zurecht zu finden. "Mein Vater hatte eine sehr schwere Zeit. Auch Depressionen. Meine Mama war so deprimiert, dass sie tagelang keine Lust hatte, überhaupt was zu tun. Die war nur am Weinen. Aber irgendwann mussten wir mit der Realität klar kommen." Orhan, dessen Lehrer in Osterath dieses überdurchschnittlich begabte Kind eine Klasse überspringen lassen wollten, wurde in der mazedonischen Schule zurückgestuft, seine deutschen Zeugnisse wurden nicht anerkannt. Und da er als Rom sowieso nicht auf eine normale Schule gehen durfte, kam er zunächst in eine spezielle Einrichtung. Auch hier bewährte er sich, wurde an eine andere, eine bessere Schule versetzt, machte schließlich sein Abitur als Jahrgangsbester.

Wie viel Energie ihn dies gekostet haben mag, wie viel Unterstützung er hierfür aus Osterath, aber auch von Seiten seiner Familie bekam, deutet er nur an. Aber dass er der kleine Prinz zu Hause war, das verschweigt er dann doch nicht, lacht, freut sich darüber, auch wenn er innerhalb der Roma-Gemeinschaft in Skopje nur als "Orhan, der Behinderte" galt. Was ihn noch immer schmerzt.

Doch die ganze Zeit über wollte er zurück nach Deutschland. In das Land von Grass und Stefan Zweig, Schriftsteller, die er liebt. Dorthin, wo man ihn so gut aufgenommen hatte. Zurück in das Land, in dessen Sprache er sich besser ausdrücken konnte als in seiner Muttersprache. Doch so einfach ging das nicht. "Das war eine große Geschichte, bis ich einreisen durfte", erinnert sich Orhan.

Seine Gönner in Deutschland mussten für ihn bürgen, Lokalpolitiker überzeugt, ein Studienplatz beschafft, ein Visum bereitgestellt werden. Irgendwann hat es geklappt. Nach sechs Jahren in Skopje durfte Orhan im Jahr 2000 wieder zurück nach Deutschland kommen und wurde acht weitere Jahre von der Osterather Kirchengemeinde finanziell unterstützt.

"Während meines Studiums habe ich meinen Kommilitonen nicht erzählt, dass ich Rom bin. Weil ich Angst hatte, dass sie mich sofort ablehnen würden." Doch irgendwann musste er sein Schweigen brechen. Als während einer Veranstaltung im großen Hörsaal der Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität die Rede auf Roma kam und der Dozent irgendwie nebulös von einem Volk aus Südosteuropa sprach, das am Rande der Gesellschaft lebe und asozial sei, da drang jedes Wort "wie ein Messerstich in mein Herz. Und dann konnte ich nicht mehr. Und ich habe mich zu Wort gemeldet. Gesagt, ich kann am besten beschreiben, wie Roma sind. Denn ich bin Rom. Ich bin Zigeuner." So begann Orhan und hat von seinem Volk erzählt, von der langen Tradition und dessen Verfolgung überall in Europa.

An diesem Tag hat Orhan sich offiziell als Rom geoutet. Nach der Vorlesung kamen Kommilitonen auf ihn zu, die gar nicht gewusst hatten, dass er Rom ist. Erstaunt erkundigten sie sich bei ihm, "wieso hast du das denn nicht erzählt? Du bist doch ein gutes Beispiel dafür, dass die Vorurteile über euch nicht stimmen." Und meinten "Orhan, du schaffst es".

Erst neun Jahre nach der Rückkehr sah er seine Eltern wieder

Seitdem steht er zu seiner Herkunft, setzt sich als Vorsitzender des NRW-Landesverbandes der Roma für die Integration seiner Landsleute ein. Er beobachtet mit Sorge, wie Frankreich Roma-Camps durch die Polizei auflösen lässt und die Zigeuner nach Rumänien oder Bulgarien ausweist. "Das sind doch EU-Bürger", empört sich Orhan. "Die haben das Recht, wieder zu kommen. Und das tun sie auch", freut er sich. Ein Teil seiner Familie lebt schon seit langem in Paris, "die sind dort integriert, studieren dort. Einer meiner Cousins wird gerade vorgeschlagen für eine Juniorprofessur an einer Pariser Uni." Wobei die Franzosen nicht wüssten, dass er ein Rom sei.

Inzwischen hat Orhan eine gänzlich neue Haltung zu seiner Herkunft. "Wir Roma müssen aus dieser Opferrolle raus", sagt er. Doch dazu müssen auch Roma sich bilden dürfen, zur Schule gehen, am Alltagserwerbsleben teilnehmen. Von einigen seiner Träume, die er mir bei unserem ersten Treffen als 13-Jähriger anvertraute, hat er sich inzwischen verabschiedet. Damals wollte er noch Tennisspieler werden, Tänzer, irgendetwas in dieser Richtung. Doch inzwischen weiß er, dass seine Behinderung solchen Träumen entgegen steht.

Jetzt erhofft er sich "Respekt durch Bildung". Er will beweisen, "dass wir vor Gott, vor der Schöpfung eigentlich gleichgestellt sind. Mit den gleichen Startmöglichkeiten, wenn wir auf die Welt kommen. Und dass wir nicht schon vorher gebrandmarkt sind als Rom, als Zigeuner oder als Deutscher."

Orhan hat Erfolg, dank seiner Willenskraft, aber auch dank seiner Unterstützer. Aber der Erfolg hat seinen Preis. Erst im Dezember 2009, neun Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland, hat er zum ersten Mal seine Eltern wieder gesehen. Sie dürfen nun jedes Jahr als Touristen für eine begrenzte Zeit nach Deutschland einreisen. "Das kann man nicht beschreiben, was ich da empfand. Erstmal flossen die Tränen." Die Eltern fühlten sich allerdings unsicher in dem Land, das sie 16 Jahre zuvor mit Polizeigewalt abgeschoben hatte. Sie trauten sich kaum auf die Straße. "Bloß nichts machen, was den Behörden zuwider ist", sagten sie immer. "Damit wir keinen Stress bekommen."

Wie wird es weitergehen mit Orhan Jasarovski? Als Student durfte er in Deutschland leben. Um bleiben zu können, braucht er ein Promotions-Stipendium. Er hat sich bei der Friedrich-Ebert-Stiftung um ein solches Stipendium beworben. Mit seiner Studien-Abschlussnote von 1,0 in Germanistik hat er gute Chancen. Klappt es nicht, wird Orhan Deutschland wieder verlassen müssen. "Davor", sagt er, "zittere und bebe ich schon jetzt."

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort