Düsseldorfer Geschichten „Ich habe im brennenden Panzer überlebt“

Düsseldorf · Als Direktor der Düsseldorfer Zahnklinik hat Hermann Böttger Karriere gemacht und hält noch mit 87 Jahren Vorlesungen. Durch seinen Arbeitseifer hat er jedoch jahrzehntelang seine Erlebnisse im Krieg verdrängt. Erst vor kurzem brach er sein Schweigen und veröffentlichte ein Buch mit 300 eigenen Fotos, die das Leben eines einfachen Soldaten dokumentieren.

 Hermann Böttger: Direktor der Düsseldorfer Zahnklinik, Panzerfahrer, Maler.

Hermann Böttger: Direktor der Düsseldorfer Zahnklinik, Panzerfahrer, Maler.

Foto: Bußkamp, Thomas (tbu)

Hermann Böttger redet — und man hört zu. Weil man sofort spürt, dieser Mann hat etwas zu erzählen. Seine Augen leuchten, sein Geist ist hellwach und die Geschichten sprudeln nur so aus ihm heraus. Sicher, er besitzt darin Routine. Als ehemaliger Direktor der Zahnklinik des Düsseldorfer Universitätsklinikums lässt er es sich nicht nehmen, jedes Semester immer noch einige Vorlesungen für Studenten zu halten. Das tut er bereits seit 60 Jahren, oder besser, seit 120 Semestern — Hermann Böttger ist 87 Jahre alt. Doch in seinem lichtdurchfluteten Wohnzimmer im Zooviertel doziert er nicht. Er erinnert sich. Er öffnet sich. Er lässt teilhaben an seinem Leben.

Denn verdrängt, das hat er über viele Jahrzehnte hinweg. Mit 17 Jahren zog der Junge aus Freiburg im Breisgau in den Krieg. Das war 1940. Was er in den Folgejahren erlebte, davon hatte allein die Mutter in vielen Feldpostbriefen erfahren. Dann folgte ein halbes Jahrhundert des Schweigens. "Ich habe nicht mal mit meiner späteren Frau Charlotte darüber geredet", sagt Böttger rückblickend. Es waren dann die vielen Diskussionsrunden im Fernsehen Anfang der 1990er Jahre, die zum Eisbrecher wurden. "Es ging ja viel darum, wie viel Schuld wir als Soldaten an Hitlers Regime und all den Gräueltaten tragen", so Böttger. Eine Frage begleitete den Mann fortan Tag und Nacht: "Wo ist die Schuld eines 17-jährigen Jungen?" Sie markiert einen Wendepunkt. In den Folgejahren schrieb sich Böttger 350 Seiten von der Seele. Jetzt ist sein Buch "Im Panzer — ich habe überlebt" in neuer, erweiterter Auflage erschienen.

Gleich mit der ersten Auflage erreichte er rund 20 000 Leser. Mit ein Grund für diesen Erfolg dürfte sein, dass es für viele aus Böttgers Generation einer Art Befreiungsschlag glich. Gab es doch in den Jahrzehnten davor in der Tat so etwas wie ein kollektives Schweigen in Deutschland. In vielen Familien wurde nicht darüber geredet, und die traumatischen Erlebnisse der Männer im Krieg wurden totgeschwiegen.

Anders Böttger. Er listet in seinem Buch nicht etwa nur Kriegsstationen und Kämpfe chronologisch auf. "Nein, ich wollte den Alltag eines namenlosen Panzersoldaten beschreiben", erklärt der Autor. Und zwar weder idealisierend noch pathetisch. Es ist das Leben eines Jungen, der Befehle ausführen musste und Hunger und Angst zu seinen treuesten Weggefährten zählte. Doch es gab noch etwas, das Böttger in dieser Zeit Tag und Nacht begleitete. Seine Kamera — eine einfache Retina I von Kodak ohne Entfernungs- und Belichtungsmesser. Durch die Linse zu gucken und den Auslöser zu drücken, verschaffte dem jungen Soldaten offenbar Erleichterung und den nötigen Abstand zu den krassen Erlebnissen. So entstanden mehr als 600 Fotos, die sich zum Großteil in seinem Buch wiederfinden.

Böttgers Fotoleidenschaft ging so weit, dass er an einer Kordel um den Hals nicht seine Pistole trug — wie unter den Panzersoldaten üblich — sondern seinen Fotoapparat. Dies führte dazu, dass er im Sommer 1944 waffenlos auf dem Schlachtfeld an der Ostfront stand. Sein Panzer — von einer russischen Panzerabwehrrakete abgeschossen — brannte lichterloh.

Doch der Verlust der Pistole war in diesem Moment mehr als Nebensache. Wenige Minuten zuvor entkam Böttger nur knapp seiner eigenen Kriegshölle. "Ich war in meinem brennenden Panzer gefangen", sagt er. "Die Luke ließ sich nach dem Angriff nicht mehr öffnen. Einen Moment lang glaubte ich, im Panzer verbrennen zu müssen." Dann realisierte er, "ich muss durch den brennenden Turm". In Todesangst kletterte er durch das Feuer nach oben, wobei sich Böttger schwere Brandverletzungen an Kopf, beiden Armen und Händen zuzog. "Mein Glück war, dass die Kanone auf 12 Uhr stand, sonst wäre ich nicht durch den Turm gekommen", ist sich der 87-Jährige sicher.

Auch, dass er ohne Waffen und verwundet auf dem Schlachtfeld stand, wurde ihm nicht zum Verhängnis. Böttger sollte leben — und landete kurz darauf im Feldlazarett, wo seine Verbrennungen behandelt wurden. Neben den vielen Schlachten und Gefechten, die den jungen Mann quer durch Europa und schließlich an die Ostfront brachten und dem Verlust vieler Kameraden, die zum Teil unmittelbar an seiner Seite ihr Leben ließen, schildert Böttger auch die normalen Bedürfnisse und Wünsche der jungen Männer von damals. Den Lebenshunger, die Sehnsucht nach Frauen und nach Zuhause.

All seine Eindrücke, Erlebnisse und Schilderungen hat er übrigens nicht unter seinem Namen Hermann Böttger veröffentlicht, sondern unter Armin Böttger. "Armin", der Name habe ihm schon immer besser gefallen, erklärt Böttger. Er hatte ihn in seiner frühen Jugend beim Jungvolk von seinem Gruppenführer bekommen, der selbst Hermann hieß und keinen zweiten neben sich dulden wollte. Von dieser Zeit an war er für seine Freunde nur noch Armin.

Und zu Armin sollte Hermann während seines langen Lebens immer dann werden, wenn er nicht als Soldat seine "Pflicht" erfüllen musste oder später als honoriger Universitätsprofessor beispielsweise an wichtigen Standardwerken schrieb. Armin war er immer dann, wenn er das spielende Kind in sich regieren ließ. So begann Böttger in den 1970er Jahren auch mit der Malerei und stellte unter dem Namen Armin Böttger eigene Bilder aus. Eine Zeit lang war er damit sogar im Pariser Grand Palais zu sehen.

Unterricht erhielt er übrigens von Conrad Felixmüller. Mit dem expressionistischen Maler aus Dresden verband ihn eine lange Freundschaft. Vielleicht auch deshalb, weil ihnen beiden das NS-Regime sozusagen unter die Haut ging. So wurden Felixmüllers Werke zwar bereits zeit seines Lebens in bedeutenden Sammlungen gezeigt. Doch von den Nationalsozialisten als entartete Kunst belegt, wurden zwischen 1938 und 1939 insgesamt 151 seiner Werke verbrannt. Darüber redet Böttger aber gar nicht. Er erinnert sich vielmehr an die schöne Zeit mit ihm. "Conrad sagte immer, ich solle nicht so real malen, sondern großzügiger und freier werden", sagt Böttger. Auf diese Weise entstanden erst auf Öl, später auf Acryl zahlreiche Landschaftsbilder und auch Motive mit Eisenbahnen. Viele davon zieren heute die Wände seiner Wohnung.

Doch neben seinen ambitionierten Hobbys, zu denen bis vor kurzem auch das Tennisspielen zählte, war Böttgers Leben vor allem eines: arbeitsreich. Nach dem Krieg stellten sich seine Weichen rasch. So hatte der sportliche Böttger ein Angebot ausgeschlagen, als Tennistrainer zu arbeiten. Stattdessen machte er erst eine Ausbildung zum Zahntechniker und studierte im Anschluss in seiner Heimatstadt Freiburg Zahnmedizin. "Mit 29 Jahren bekam ich dann den Ruf nach Düsseldorf. Als Leiter der Prothetischen Abteilung der damals noch Westdeutschen Kieferklinik." Böttger blieb im Rheinland, wurde nach seiner Habilitation Direktor der Zahnklinik und war der erste Hochschullehrer in Deutschland, der sich mit der Implantologie befassen sollte.

So organisierte er auch 25 Jahre lang einen internationalen Kongress zu diesem Thema in St. Moritz, unterrichtete Studenten in Italien und auch im fernen Japan, wo sogar eine Krone nach ihm benannt wurde: die "Böttger-Krone". Im heimischen Düsseldorf behandelte er Künstler aus dem Opernhaus, Industrielle aus dem Ruhrgebiet, und seine Oberärzte wurden eigens nach Moskau eingeflogen, um dort zum Beispiel Breschnew zu behandeln.

Auf 150 Publikationen und 450 Vorträge kann Böttger heute zurückblicken. Aber sein Arbeitseifer kam nicht nur Hermann zugute, sondern wiederum auch Armin. Denn durch die Arbeit lernte er schließlich auch seine Frau Charlotte kennen — sie war eine seiner Studentinnen. Inzwischen sind sie mehr als 40 Jahre verheiratet, haben eine Tochter und drei Enkelkinder.

Als Böttger sein Schweigen über seine Erlebnisse als junger Soldat brach, war es auch seine Frau, die die ganzen Geschichten als Erste zu hören bekam. "Als das alles bei ihm hochgekommen war, fühlte ich mich plötzlich selbst wie im Krieg", beschreibt Charlotte Böttger.

Auch wenn ein großer Teil der persönlichen Aufarbeitung durch das Buch bewältigt scheint, diskutiert das Paar bis zum heutigen Tag — immer, wenn es Anlass gibt. Beispielsweise bei dem Film "Die Flucht", der vor kurzem als Wiederholung mit Maria Furtwängler in der Hauptrolle im Fernsehen kam. Denn auch Böttger erlebte die Flucht aus dem damaligen Ostpreußen über das zugefrorene Haff. "Im Film sahen die Flüchtlinge aus, als kämen sie gerade aus einem Modegeschäft", bemerkt der Professor trocken, aber ohne sarkastischen Unterton.

Denn dafür sind die realen Szenen, die er im Kopf gespeichert und zum Teil auch mit seiner Kamera festgehalten hat, sicherlich zu extrem. "Die meisten Flüchtlinge waren bitterarm, trugen kaum etwas am Leib und marschierten tagelang über brüchiges Eis und wateten durch kaltes Wasser", erzählt Böttger. Auch die medizinische Versorgung sei katastrophal gewesen — "viele Frauen bekamen ihre Kinder sozusagen am Wegesrand". Böttger selbst habe nach dem Marsch übers Eis in einem Taubenschlag Zuflucht gefunden — "es war die einzige Unterkunft für die Nacht, die ich noch finden konnte". Doch dort hineinzukriechen, sei allemal besser gewesen als bei Regen und Kälte im Freien zu übernachten.

Bei all seinen Ausführungen ist Böttger äußerst offen und sortiert zugleich. Trotz seines reichen Lebens klingt in seiner Wortwahl stets Bescheidenheit durch. An manchen Stellen scheint der Professor, Maler und Buchautor sogar zu kokettieren. So sei er ein schlechter Schüler gewesen. Scheu und schüchtern. Man mag es ihm eigentlich nicht glauben. Mit fast staatsmännischer Geste sitzt der 87-Jährige in seinem melierten Jackett auf dem Stuhl.

Wer Böttger heute mit dem jungen Böttger auf den Fotos im Buch vergleicht, merkt: Armin ist geblieben. Aber Hermann ist bei sich angekommen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Böttger redet — und man gebannt zuhört.

(RP)
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