Interview Graffiti-Pionier Harald Naegeli "Die Kunst ist nie ein Schaden, sondern eine Bereicherung"

Düsseldorf · Harald Naegeli provoziert. Das war schon so, als er als "Sprayer von Zürich in den 1970er Jahren berühmt wurde - und am Ende in der Schweiz ins Gefängnis musste, obwohl Prominente wie Joseph Beuys und Willy Brandt dagegen protestieren.

 Harald Naegeli in seinem Atelier in der Innenstadt. Der gebürtige Schweizer lebt seit Anfang der 1980er Jahre in Düsseldorf.

Harald Naegeli in seinem Atelier in der Innenstadt. Der gebürtige Schweizer lebt seit Anfang der 1980er Jahre in Düsseldorf.

Foto: Andreas Bretz

Inzwischen ist Naegeli 75 Jahre alt und wohnt seit Jahrzehnten in Düsseldorf, wohin er zunächst kurzzeitig vor der Haft geflohen war. Er ist eine anerkannte Größe der Kunstwelt, hat einen ganz eigenen Blick auf die Dinge - und sorgt mit seinen ohne Erlaubnis gemalten Wandzeichnungen immer noch für Aufregung. Zuletzt im Frühjahr, als die Politik eines seiner Werke konservieren wollte - und Unbekannte es sofort abwuschen.

In der Öffentlichkeit zeigt sich der Graffiti-Pionier selten, auch fotografieren lässt er sich ungern. Aber derzeit hat er ein Anliegen: Zugunsten der Flüchtlingsinitiative "Stay" verkauft er eine Auflage mit signierten Drucken. Heute, 19 Uhr, startet die dazugehörige Ausstellung in der Galerie Art Unit, Leopoldstraße 52.

Wie kommt es, dass Sie sich für Flüchtlinge engagieren?

Naegeli Vor 30 Jahren war ich selbst Flüchtling als Künstler, vor einer absurden schweizerischen Justiz. Ich wurde aber in Düsseldorf sehr aufmerksam und hilfsbereit von Freunden und Künstlern aufgenommen. Das ist der Anlass, sich meinerseits zu engagieren. Ich könnte noch etwas hinzufügen.

Bitte.

Naegeli Wir leben in einer scheinbar abgesicherten Gesellschaft. Dennoch sind elementare Ängste eine Hauptsache in unserem Innenleben. Wir fürchten uns vor der Zukunft, vor dem, was auf uns zukommt: die Zerstörung der Umwelt, ein rücksichtsloser Wirtschaftsbetrieb. Ich habe inzwischen stärkere Ängste, und dadurch kann ich mich vielleicht besser mit Flüchtlingen identifizieren.

Wie meinen Sie das?

Naegeli Ich werde bald 76 Jahre alt, und ich merke das Alter. Da ist eine wachsende Unsicherheit, auch eine Müdigkeit, die vorher nicht gegeben war. Das verdrängt man eigentlich. Auch wenn wir sehen, dass andere leiden, schließen wir gern die Augen. Man hat nur einen Einblick, wenn man selbst betroffen ist. Daran denke ich bei den Flüchtlingen.

Sie sind sehr produktiv, auf Papier und an Wänden. Was treibt sie an?

Naegeli Der Freiheitsgedanke. Immer ist die Freiheit das Wesentliche. Das, was uns glücklich macht, ist die Freiheit. Es ist mehr als 35 Jahre her, dass ich die ersten marktfreien Kunstattacken in die Gesellschaft gebracht habe. Und bei mir ist es im Alter so, dass ich bestrebt bin, möglichst viel wegzugeben. Ich schenke meine Kunst der Gesellschaft.

Es empfinden sicher nicht alle als Geschenk, dass Sie ungefragt sprayen.

Naegeli Ja. Das ist der Konflikt in jeder Kunst. Kunst ist nicht nur ein Geschenk, sondern auch eine Aufklärung. Damals, als ich zu neun Monaten Haft verurteilt worden bin, hatte man eigentlich gesetzlich keine Grundlage. Da kam man auf den Begriff, das sei ein Sachschaden. Aber die Kunst ist nie ein Schaden, sondern eine Bereicherung. Eine Sprayfigur, und sei es nur ein Gekleckse, auf einem Steinhaufen aus Beton macht ihn nicht unbrauchbar.

Aber der Eigentümer einer Sache will auch bestimmen, wie sie aussieht.

Naegeli Das ist richtig. Das ist eine philosophische Frage, die sich der Eigentümer stellen muss.

Sie bekennen sich nicht zu Zeichnungen im öffentlichen Raum. Warum?

Naegeli Die Kunst muss selber sprechen, nicht der Künstler. Außerdem spielt die Verwirtschaftlichung des Namens in unserer kapitalistischen Gesellschaft eine große Rolle. Ich aber komme aus dem Ursprung, von den Höhlenmalereien. Da gab es keine Besitzansprüche. Dazu kommt, dass ich mich nicht bekenne, weil mir eine gemeine Absicht unterstellt wird. Da gehe ich lieber. Denn die Kunst ist das Gegenteil von einer bösen Absicht.

Die Politik überlegt, Werke von Ihnen zu schützen. Wie stehen Sie dazu?

Naegeli Da muss ich mich heraushalten. Der Künstler hat nur die Freiheit, etwas herzustellen, aber ob es dann akzeptiert wird, ist eine Frage für die Gesellschaft.

Zwei Mal sind Sprühereien von Ihnen übermalt worden, als sie konserviert werden sollten. Was glauben Sie, warum Sie so provozieren?

Naegeli Die Schaffung provoziert. Das ist vielleicht in der menschlichen Natur eine eigenartige Reaktion auf alles, was öffentlich oder politisch ist. Wir sind eben nicht frei in unserer Betrachtungsweise, sondern müssen die Freiheit erarbeiten.

Warum fasziniert Sie das Sprühen im öffentlichen Raum so?

Naegeli Es gibt ein Unbehagen in den Städten. Da stehen die Überbleibsel von früher neben neuen Klötzen. Es ist ein Graus. Der öffentliche Raum ist chaotisch, aber fast nie ästhetisch. Es ist ja kein Zufall, dass im Urlaub alle raus wollen. Man wird überall bedrängt oder eingeschränkt. Zürich, wo ich damals aus Protest gegen die Zerstörung der Architektur durch den Kapitalismus angefangen habe, ist heute praktisch tot.

Was wollen Sie mit ihren Sprayereien denn dagegensetzen?

Naegeli Vielleicht ist das Lebendige das Wichtige. Ich war vor langer Zeit mal in Bombai. Da gibt es in den Straßen ein Gesummse, das sehr angenehm war. In Düsseldorf stört das ewige Gejaule der Sirenen. Es ist eine unselig bestückte Kulisse des Lärms. Ich will mit meiner Kunst vor allem den Blick auf das richten, was wie die Natur für sich selbst da ist.

Warum ziehen Sie nicht aufs Land?

Naegeli Das frage ich mich auch. Vielleicht brauche ich das Unbehagen.

Sie gelten als Graffiti-Pionier. Was denken Sie über jüngere Sprayer?

Naegeli Diese Tags, also diese Graffiti-Signaturen, haben eine starke Ähnlichkeit zu Werbung. Gestalterisch kann man nur in Ausnahmefällen von einem Gewinn sprechen. Die jugendlichen Sprayer sind vor allem interessant in Aufklebern. Diese Gespenster zum Beispiel gefallen mir, das ist originell.

Es ist bemerkenswert, wie stark Street Art inzwischen im Trend liegt.

Naegeli Ja?

Viele Menschen hängen sich sogar Fotos von Graffiti ins Wohnzimmer.

Naegeli Verdienen die Künstler daran was?

Keine Ahnung.

Naegeli Ich hoffe, dass das mit meinen freien Arbeiten nicht passiert. Das ist sogar wichtig.

ARNE LIEB FÜHRTE DAS GESPRÄCH.

(RP)
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