Derendorf/Düsseltal Brehmstraße als Mikrokosmos

Derendorf/Düsseltal · In dem Roman "Brehm 46" der Derendorferin Ulrike Reinker treffen ganz unterschiedliche Charaktere in einem heruntergekommenen Mietshaus gegenüber von Eisstadion und Zoopark aufeinander.

Ulrike Reinker hat früher an der Brehmstraße gewohnt, sie weiß, wie es dort aussieht: der ausufernde Verkehr auf Düsseldorfs Einfallachse, die in einer "rücksichtslosen Geradlinigkeit vom Mörsenbroicher Ei bis zum Brehmplatz" ohne jeden Baum am Straßenrand verläuft; die billigen Backsteingebäude aus den 20er Jahren, der Zoopark, der seine besten Zeiten ebenso hinter sich hat wie das Eisstadion. Und doch hat die Autorin den Standort für ihre Geschichte genau hierhin verlegt - konkret in das Haus Nummer 46. Es hätte auch jedes andere sein können, an einer anderen Straße in jeder nur denkbaren größeren Stadt. Aber es ist nun einmal Düsseldorf, die Brehmstraße, Hausnummer 46.

Von nur einer einzigen Geschichte bei "Brehm 46" zu sprechen, ist eigentlich falsch. Es sind ein halbes Dutzend, in jeder Episode steht eine neue Figur im Fokus, vom fünften Ober- bis runter ins Erdgeschoss. Die Charaktere wirken zunächst skurril, wachsen dem Leser aber zunehmend ans Herz: eine schwangere Kunststudentin, die nichts mit ihrem Leben anzufangen weiß, ein 18-jähriger schwuler Moslem, eine vereinsamte Linke, eine gescheiterte Schauspielerin, die ihren Lebensunterhalt als Porno-Synchronsprecherin verdient, ja sogar die schrullige Frau Althaus, Typ alte Hexe, empfindet man auf einmal sympathisch - weil Ulrike Reinker immer aus der Ich-Perspektive erzählt, so an der Gefühlswelt ihrer Protagonisten teilhaben lässt, generationsbedingt die jeweilige Sprache anpasst und mit Hilfe von Rückblenden erklärt, warum, der- oder diejenige so ist, wie er ist. Denn mit einem meist größeren Problem haben die Menschen in Reinkers Roman alle zu kämpfen.

"Ich habe schon Mosaiksteine aus der Realität verwendet, Facetten zumindest, von Personen, die mir damals an der Brehmstraße, aber auch anderswo über den Weg gelaufen sind. 98 Prozent ist aber fiktiv angelegt", erzählt Reinker. Die Entwicklung eines Menschen hat sie schon als Kind interessiert: "In der Straßenbahn habe ich die Leute angestarrt und mir zu ihnen eine Geschichte, eine kleine Biografie ausgedacht." Niedergeschrieben hat sie das lange nicht, stattdessen wurde die heutige Derendorferin Fotografin - eine erfolgreiche dazu: Veröffentlichungen von Stern über Capital bis Spiegel zieren ihre Vita, auch die Bäckerblume zählt dazu. "Dafür habe ich früher tolle Titelbilder gemacht, das ist keine Schande", sagt die dreifache Mutter.

Die Fotografie ist nach wie vor ihr "Brotjob", obwohl "Brehm 46" die bereits zweite Romanveröffentlichung ist. "Wie es war, ich zu sein" ist ähnlich episodenhaft angelegt, beschreibt das Schicksal von drei Frauen und soll, nachdem es 2014 zuerst nur als Taschenbuch erschienen ist, nun von Reinkers aktuellem Verlag als Hardcover neu aufgelegt werden. "Das freut mich natürlich und betrachte ich auch ein Stück weit als Anerkennung für meine Art, Geschichten zu erzählen", erklärt die Autorin (Jahrgang 1965).

Ihre Vorgehensweise ist dabei eher chaotisch. Chronologisch hat sie die Charaktere in "Brehm 46" zwar von ganz oben bis ganz unten ausgearbeitet, "aber zunächst hatte ich immer nur ein vages Bild im Kopf, das sich im Verlauf des Schreibens weiterentwickelte". Irgendwie sind die tragischen, manchmal dramatischen, oft komischen Episoden über die Begegnungen im Treppenhaus hinaus miteinander verflochten, zudem bietet sie dem Leser im Epilog eine Möglichkeit an, wie es mit ihren Figuren weitergehen könnte. "Dafür wurde ich schon beschimpft, wie ich denn dieses schöne offene Ende so zerstören könne. Eine Nachbarin hat mir wiederum gesagt, das sei mit das Beste, was sie je gelesen hätte. Das hat mich schon positiv erschreckt", sagt Reinker.

Was nun wirklich aus Nadja, der Kunststudentin, Enis, dem schwulen Moslem, oder auch Herrn Blumfeld, dem Vermieter, in Zukunft wird, bleibt kein Geheimnis. "Ich plane auf jeden Fall eine Fortsetzung von Brehm 46", so Reinker.

(RP)
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