Serie "Unser Rhein" in Düsseldorf Was für ein Gefühl

Düsseldorf · Wenn der Sonnentag zu Ende geht, beginnt die Freitreppe am Burgplatz in Düsseldorf zu vibrieren. Woran liegt das bloß? Eine teilnehmende Beobachtung.

Im Sommer genießen viele Einheimische und Touristen die Freiheit der Freitreppe.

Im Sommer genießen viele Einheimische und Touristen die Freiheit der Freitreppe.

Foto: Andreas Endermann

Küssen könntest du auch an einem anderen Ort. Deine Pizza essen. Flaschenbier trinken. Mit Freunden reden. An der Zigarette ziehen. In die Sonne blinzeln. Auf den großen Fluss schauen. Die Welt Welt sein lassen. Können ist nicht wollen. Deshalb kehrst du immer wieder zurück zu den 21 Stufen. Es fühlt sich zu gut an.

Ein Freitag oder ein Samstag auf der Treppe am Burgplatz. Es ist Sommer. Es ist 17 oder 18 Uhr. Es ist gutes Wetter. Ist kein gutes Wetter, sitzt hier niemand. Du musst morgen nicht arbeiten. Die anderen sind auch schon da. Sie sind zwischen 15 und 40, genießen den Feierabend, die Sonne auf der anderen Seite des Flusses oder einfach die Sicht auf Oberkassel. Hipster, Kids, Studenten. Aus Düsseldorf. Aus Deutschland. Von weit her. Auch Leute mit weißen Hosen oder Anzügen würde hier niemand dumm anmachen, sie kommen bloß nicht. Niemand setzt sich alleine auf die Treppe, niemand hat nichts zu trinken dabei. Sie haben alle Zeit der Welt. Die einzigen, die auf der Treppe arbeiten, sind die Pfandflaschensammler. Die Jogger sehen aus wie Streber. Die Spaziergänger wirken wie Leute, die 47 sind und im Urlaub nach Mallorca fliegen. Der Rhein fließt von links nach rechts.

Vor dir sitzt ein Tramperpaar aus Kroatien, das zwei Düsseldorferinnen nach kostenlosen Schlafplätzen fragt, was eine der beiden zum Handy greifen lässt. Später teilen die Kroaten einen großen Plastikbeutel mit Kirschen. Dann dieser junge Mann und die junge Frau. Das erste Date. Sie im Kleid. Sitzt niemals bequem. Zweimal holen sie Nachschub am Kiosk. Sie werden sich viel, viel später an der Haltestelle Heinrich-Heine-Allee umarmen und kusslos trennen.

Als die Rheinpromenade in den 90ern neugestaltet wurde, da waren die Treppenstufen nur ein Baustein. Im Juni 1995 war alles fertig. Die Architekten Niklaus Fritschi, Benedikt Stahl und Günter Baum hatten die Spanische Treppe im Rom im Hinterkopf, als sie die Düsseldorfer Version entwarfen. Sie öffnet sich zum Rhein hin, damit man von allen Plätzen aus einen guten Blick hat, 50 Meter breit ist die Treppe an der untersten Stufe. "Die jungen Leute haben diesen Ort sehr schnell angenommen", sagt Fritschi. Fast schon zu schnell. Bald waren die Wände mit Graffiti besprüht. 1997 gestaltete Hermann-Josef Kuhna die Wände zusammen mit seinen Studenten, "Rivertime" heißt das Pixelbild, das weiteres Gesprühe verhindern sollte. Heute sind die Wände wieder voll mit Graffiti. Im Jahr 2000 wurden vor der obersten Stufe Pflastersteine eingelassen, die die eingravierten Namen von Düsseldorfer Aidstoten tragen.

Eine Freitreppe ist ein Ort für junge Leute. Nicht, weil Erwachsenen das Betreten verboten ist, sondern weil die Neigung, ausschließlich auf Stühlen und Bänken zu sitzen, mit dem Alter zunimmt. Es kostet auch nichts, auf einer Treppe zu sitzen, niemand muss etwas zu trinken bestellen. Was du an der Freitreppe hast, siehst du auch, wenn du an den Kasematten vorbeiläufst.

Wer auf der Freitreppe sitzt, will nicht unterhalten werden. Er will nichts sehen außer das, was er schon tausend Mal gesehen hat. Rhein. Oberkassel. Er will einfach nur sitzen, auch wenn die Stufen von Minute zu Minute härter werden. Trotzdem halten einige Artisten den Platz vor der Treppe für eine Bühne. Sie haben es schwer. Du merkst die Unbegeisterung in dir, wenn es wieder einer versucht, und es dauert sehr, sehr lange, bis die Akrobaten und Akustikgitarristen deine Aufmerksamkeit haben, und sehr schnell haben sie dich wieder verloren. Die meiste Zeit musst du sowieso selbst dafür sorgen, dass du dich nicht langweilst.

Es wird dunkel. Wenn die Sonne hinter den Oberkasseler Fassaden verschwindet, verändert sich die Treppe. Wer jetzt kommt, kann froh sein, noch einen Platz zu finden. Nun geht es nicht mehr nur darum, den Feierabend zu genießen, sondern auch Spaß zu haben. Die Leute reden mehr, sie trinken mehr Bier. Das Licht geht an. Die drei Scheinwerfer, die die Stadt aufgestellt hat, damit die Leute im Dunkeln keinen Quatsch machen. Die Farben wechseln. Rot, gelb, grün, blau, lila, weiß. Keine davon ist grell. Die Treppe soll ein intimer Platz bleiben und nicht beleuchtet werden wie ein Fußballstadion.

Zum Jahreswechsel 2007/2008 forderten CDU, Ordnungsamt und Polizei ein Alkoholverbot auf der Treppe und dem Burgplatz, FDP, Grüne und SPD verhinderten das im Verkehrsausschuss. Später forderten Geschäftsleute eine Videoüberwachung auf dem Burgplatz. Der Polizeipräsident lehnte das ab, weil der Ort kein Kriminalitätsschwerpunkt sei. "Es gibt keine Drogen- und keine Kriminalitätsszene an der Freitreppe", sagt André Hartwich, Sprecher der Polizei Düsseldorf. Fünf Kameras stehen in der Altstadt, keine an der Treppe. Wozu auch? Wer auf der Treppe sitzt, ist nicht aufgeputscht durch die Kombination aus Stimmungsmusik und Alkohol. Wer sitzt, neigt zur Besonnenheit. Wenn die Polizei vorbeifährt, wirft sie einen bis keinen Blick zur Seite. Ja, manchmal riecht es nach Gras.

Trotzdem ist die Freitreppe nach Sonnenuntergang kein sauberer Ort mehr. Flaschen, Scherben, Bierpfützen, Rotze, Pizzakartons. Wenn die Pfandflaschensammler nur noch Plastikflaschen aufheben, weil sie bloß Tüten mitgenommen haben und keine Rollwagen, sieht man sich besser zweimal um, bevor man sich setzt. Vielleicht ist dieser Ort auch deshalb ein Ort, an dem sich mehr Freunde als Pärchen treffen, weil die Romantik hart ist und nicht zärtlich. Es gibt genügend Düsseldorfer, die diesen Ort meiden. Junggesellenabschiede kommen auch nicht vorbei.

Mitternacht ist vorüber. Wenn du denkst, du hättest nun wirklich genug von diesem Ort, dann entdeckst du diese Leute. Den Flaschensammler, der seinen Zigarillo vier Jahre zwischen den Lippen hält, ohne einmal daran zu ziehen. Die Kids, die einen Schluck Cola nehmen und dann einen Schluck Jägermeister und erst im Mund mischen. Der angetrunkene Russe mit Plastikbecher und Zigarette, der ein T-Shirt über seinem Bauch trägt und eine kurze Sporthose. Du verstehst kein Wort, hast aber trotzdem das Gefühl, von seiner Weisheit zu profitieren. Du hörst, wie neben dir dieser Typ über seine Unterhaltszahlungen spricht und eine Gruppe darüber diskutiert, wie der Rheinturm mit den Lichtern die Zeit anzeigt. Du kannst hier über alles reden. Um 2 Uhr kommt jemand, der hinter der Treppe steht, auf die Idee, einen Lederball in den Rhein zu schießen. Doch er zögert, seine Freunde haben das Handy gezückt. Dann nimmt er Anlauf, der Ball landet im Wasser, und der Rhein trägt den Ball von links nach rechts.

Die Treppe ist eine Gemeinschaftsleistung. Du musst mit niemandem sprechen und gehörst doch dazu. Und dann bist du wieder erfüllt von diesem Gefühl, dass das hier genau richtig ist, dass das Leben gut ist oder zumindest gut wird und dass dir niemand was kann. Du bist, was du bist. Du bist, was du fühlst. Nicht, was du trägst oder hast. An den Kasematten ist es bereits so still, dass du den Rhein rauschen hörst. Auf der Bolkerstraße ist Endzeitstimmung, irgendjemand wird dort gleich irgendjemanden schlagen. Auf der Treppe spielt ein Kerl Akustikgitarre.

Ein schöner Gedanke wäre, dass es an der Treppe deshalb kaum Idioten gibt, weil die Idioten alle an der Treppe vorbeigehen. Am allerschönsten aber wäre es, wenn es hier niemand übers Herz brächte, ein Idiot zu sein.

(RP)
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