Rheinbahn intim auf Twitter "Wenn er keine Smileys macht, liebt er dich nicht"

Erkan Dörtoluk belauscht Gespräche im Düsseldorfer Nahverkehr und veröffentlicht die markantesten Sätze im Internet. Damit will er Lacher sammeln – und zum Nachdenken anregen über Privatheit und Schubladendenken.

 Ohren gespitzt, Handy zum Mitschreiben gezückt: Erkan Dörtoluk (41) belauscht Gespräche in Bus und Bahn. Die witzigsten Passagen daraus veröffentlicht er bei Twitter und Facebook.

Ohren gespitzt, Handy zum Mitschreiben gezückt: Erkan Dörtoluk (41) belauscht Gespräche in Bus und Bahn. Die witzigsten Passagen daraus veröffentlicht er bei Twitter und Facebook.

Foto: Tobias Jochheim

Erkan Dörtoluk belauscht Gespräche im Düsseldorfer Nahverkehr und veröffentlicht die markantesten Sätze im Internet. Damit will er Lacher sammeln — und zum Nachdenken anregen über Privatheit und Schubladendenken.

Erkan Dörtoluk kann es nicht fassen. Bei jeder Bahnfahrt aufs Neue. Worüber die Menschen in der Bahn reden. In Zimmerlautstärke, sodass man sich nicht heranschleichen muss, um mitzuhören, sondern den Gesprächen seiner Nachbarn im Gegenteil kaum entkommen kann, wenn man nicht gerade selbst tief in Gedanken ist. "Egal, wie alt die Leute sind, wie arm oder reich; die Themen sind immer dieselben", sagt Dörtoluk. "Leben und Tod, Arbeit, Karriere und Geld — und immer wieder Fortpflanzung."

"Wenn man jeden Tag 8 Stunden richtig arbeitet, ohne Handy, ohne Facebook und alles, wird man davon verrückt, sagen die Ärzte." (Eva, 43)

"Die Zahnspange ist total nutzlos. Mein Kieferorthopäde macht nur Termine nach der Schule." (Niklas, 14) #rheinbahn-intim

"Anne wollte erst und war bei ihm in der Wohnung, aber der besaß wohl kein einziges Buch, da wollte sie dann doch nicht mehr." (Mia, 32)

Der 41-Jährige ist mit einem anderen Verständnis von Privatsphäre aufgewachsen. Halb belustigt und halb besorgt reagiert er auf die heute herrschende Zeigewut im Netz: Mein Mittagessen, mein Urlaub, meine Hochzeit und Scheidung — dokumentiert mit Fotos, Videos, Ortsangaben.

Dörtoluk erinnert sich gut an die Proteste gegen den "Großen Lauschangriff", mit dem die Bundesregierung um die Jahrtausendwende die Verfolgung von Straftaten erleichtern wollte. Und an die Revolte der Bürger aller Schichten und politischen Ansichten gegen die Volkszählung, die 1983 stattfinden sollte. Vier Jahre lang demonstrierten Junge und Alte gegen die Erhebung von aus heutiger Sicht harmlosen Basisinformationen. "Nur Schafe lassen sich zählen!", lautete einer der Schlachtrufe. Es kam zu publikumswirksamen Protesten selbst auf dem Rasen des Dortmunder Westfalenstadions und zu Razzien der Polizei bei Kritikern. Erst das Bundesverfassungsgericht bremste die Bundesregierung aus. Im Mai 1987 wurde die Zählung schließlich doch durchgeführt, allerdings in abgeschwächter Form.

"Und heute?", fragt Dörtoluk. "Ob NSA oder BND: Wer uns abhört, muss sich doch erst fremdschämen und dann den Verstand verlieren."

"Elkes Tochter war ja so kaufsüchtig. Jetzt war die beim Arzt und der hat gesagt, das Shopping kommt von der Schilddrüse." (Maria, 64)

"Wenn er mit dir textet und keine Smileys macht, liebt er dich nicht." (Lisa, 16) #rheinbahn-intim

Sittengemälde in 140 Zeichen

Unter dem Namen "Rheinbahn_intim" veröffentlicht Dörtoluk bei Twitter und Facebook das Dümmste, Peinlichste, Witzigste, was er selbst mithört. Dabei skizziert er in 140 Zeichen oft ganze Sittengemälde. Bilder und Töne entstehen im Kopf.

Vom schwer enttäuschten 14-Jährigen, der feststellen muss, dass ihn seine doofe Zahnspange nicht wenigstens ab und an Schulstunden verpassen lässt, weil der Kieferorthopäde nur nachmittags Termine macht. Von dem jungen Mann, dessen größte Sorge ist, für schwul gehalten zu werden, wenn er zu viel mit Frauen redet. Von der Frau mit Prinzipien, die zwar ab und zu eine für eine Nacht ist — aber nur, wenn das Gegenüber über ein gut gefülltes Bücherregal verfügt. Von der Oberstufenschülerin mit dem ganz eigenen Wertesystem, nach dem im Lotto gewonnenes Geld im Gegensatz zu selbst erarbeitetem "keine Ehre" habe. Und von der etwas jüngeren Schülerin, die fest daran glaubt, sich von ihrem Gehalt als Auszubildende zur Erzieherin bald eine Eigentumswohnung kaufen zu können.

Von der Studentin, die sich damit brüstet, wie sie um den Putzdienst in der WG herumkommt, nämlich anhand immer neuer in sie verliebter Mitbewohner. Von verbitterten alten Frauen, die Stammtischparolen nachblubbern über "die fleißigen Chinesen" und "die faulen deutschen Obdachlosen". Und anderen alten Frauen, die patent ihr Recht einfordern, auch mal über eine rote Ampel zu laufen, nachdem sie Deutschland mit aufgebaut hatten und immer brav gewesen seien.

"Die Vanessa sagt, sie spürt nichts, wenn sie zu Primark geht. Die macht auch nie Smiley oder so, wenn die beim Shopping ist." (Lisa,16)

"Ich mag gemischte WG's, weil es immer einen Mitbewohner gibt, der sich in mich verliebt und meinen Putzdienst übernimmt." (Romy, 24)

Von glühenden Lokalpatrioten, die über Kölner lästern, welche 600 Jahre brauchten, um den Dom zu bauen und heute sogar noch stolz auf das Ding seien. Und von Menschen, die sich um Flüchtlinge sorgen, weil denen der Anblick des reichen Düsseldorf sicher nicht gut tue: "Da muss man auch mal sensibel sein!"

Lachen kann ein Zeichen für Amüsement, aber auch für Hilflosigkeit sein.

Sein Unglück wurde zum Glück der Leser

Was Dörtoluk seinen Lesern ohne jede Wertung oder Einordnung zumutet, hat er nicht in den Wohnzimmern seiner Freunde belauscht oder in den Büros der Kunden, die ihn als Fotograf oder Texter buchen. Sondern in Düsseldorfs Bahnen und Bussen. Genügend Gelegenheit hat der selbsternannte "Whistleblower von Tarifzone A" dazu. Dörtoluk wohnt im Dreieck zwischen den Haltestellen Klosterstraße, Jan-Wellem-Platz und Jacobistraße. Oft springt er mit Kameratasche und Stativ in die Bahn zu einem seiner Auftraggeber: "Mit der 704, 706, 709 oder 712", zählt er auf, "mit der U77 oder U79, oder manchmal mit dem 721er Bus zum Flughafen".

Ein eigenes Auto besitzt Dörtoluk schon seit zehn Jahren nicht mehr. Er mag das Gefühl der Freiheit und genießt den Wegfall von Staus und Parkplatzsuche — insbesondere, seit 2010 der Bau der Wehrhahn-Linie begann. Außerdem kann er ja selbst fahren, wenn er will: mit Leasing- oder Testwagen oder Autos, die ihm seine Kunden zur Verfügung stellen. Besser gesagt: Er konnte. Bis Mitte 2012. Als er eines Morgens aufwacht, ist seine linke Schulter gelähmt, er spürt nichts als Taubheit bis in die Finger. Vier Monate lang zieht er von Arzt zu Arzt zu Physiotherapeut. Im Januar 2013 darf er wieder Auto fahren, beschwerdefrei ist aber erst seit knapp einem halben Jahr.

"Kennst ja meine Freundin... deshalb klingelt die Ex vorher durch, bevor die mir irgendwas schickt, wo sie nackt drauf ist." (Martin, 33)

"Meine Oma ist stabilste Frau, wo's gibt." (Dennis, 16)

Dörtoluks Unglück wurde zum Glück für inzwischen rund 1500 Twitter- und Facebook-Nutzer. Aus Langeweile und um sich abzulenken, hatte Dörtoluk begonnen, auf seinem Handy die absurdesten Gesprächsfetzen mitzutippen und später in die Welt zu twittern, behutsam auf maximal 140 Zeichen gekürzt, ohne den Sinn zu verändern. Er blieb dabei, weil er die Herausforderung mag — und bei jeder Fahrt Neues lernt über Menschen und Kommunikation.

"Umschulung bekommst du heute nur noch, wenn du ganz dick bist, oder Kettenraucher." (Tanja, 40)

"SEO war dieses Beispiel mit wenn du Bottrop und Ferrari in einem Text hast, dann ist das schlechtes SEO." (Hagen, 44) #rheinbahn-intim

"Momente, in denen man beim Denken stolpert"

Seine frühesten Einträge aber wirken seltsam blutleer. Irgendetwas fehlte. "Ich wollte Platz sparen und ging davon aus, die Aussage selbst würde Rückschlüsse auf den Sprecher zulassen", sagt Dörtoluk. Taten sie aber nicht. "Irgendwann sagte meine Freundin: 'Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wer die Leute sind, die solche Dinge sagen.' Erst ab diesem Zeitpunkt habe ich Namen und Alter der Sprechenden hinzugefügt."

Die Namen? "Ja. Die stehen ihnen auf der Stirn geschrieben", sagt er gespielt feierlich. Selbstverständlich veröffentlicht er nicht die echten Namen der Menschen, die er heimlich belauscht, auch wenn es nur Vornamen und geschätzte Altersangaben sind. Weil er sie nicht kennt. Und wohl kaum ehrliche Antworten bekäme, falls er danach fragte. Und selbst wenn er ehrliche Antworten bekäme, würde er sie nicht verwenden.

Erstens, weil ihm Datenschutz wichtig ist — und Datenschutz im Kleinen beginnt. Und zweitens, weil sich Dörtoluk im Klaren darüber ist, was er da einfängt: "Es sind Momente, in denen jemand beim Denken stolpert und hinfällt. Viele dieser Sätze könnten jedem von uns rausrutschen, wenn wir gerade nicht damit rechnen würden, belauscht zu werden."

"Anne-Sophie spricht anders als Chantal"

Dabei ist es nicht Dörtoluks Stil, Offensichtliches wegdiskutieren zu wollen: "Selbstverständlich drückt sich eine typische Anne-Sophie anders aus als eine Chantal." Er rät aber dringend dazu, das nicht überzubewerten. "Ich habe mir abgewöhnt, aus diesen Satzfetzen ein Urteil abzuleiten." Jeder scheinbar stumpfe Macho und jede scheinbar weltfremde, schmuckbehangene Kö-Flaneurin könne ein weiches Herz haben, hinter jeder schroffen Bemerkung eine tiefe Verletzung stecken. Doch liege es eben in der Natur des Menschen, dass man aus Angst vor dem Unbekannten jeden und alles gern einsortiere — wobei pubertierende Mädchen mit fragwürdigem Kleidungs- und Schminkstil eben schnell in der Schublade "kleine Asi-Schnitte" landeten.

"Ich weiß, dass er außer mir noch eine andere Freundin hat, deswegen liebe ich ihn auch nur halb, nicht ganz." (Jennifer, 18)

"Ich hab mein Leben lang für dieses Land gearbeitet, da wird es ja wohl erlaubt sein, mal über eine rote Ampel zu laufen." (Ingrid, 73)

Immerhin in eigener Sache hat er das Schubladendenken schon überwunden. "Jüdischer Intellektueller, französischer Manager, spanischer Student — die Menschen halten mich für alles mögliche. Nur für einen Türken nicht, nicht einmal meine eigenen Landsleute." Dörtoluk genießt das: "Wo Individualität alles gilt, ist es das Höchste der Gefühle, endlich angekommen zu sein in einer Schublade mit leerem Etikett."

Meist sind es die deftigsten, schmutzigsten seiner Einträge, die am beliebtesten sind und sich am weitesten verbreiten (Liste). Doch Dörtoluk betont, dass er nicht auf der Jagd sei nach "Klicks und Likes, Sternchen, Smileys und Herzchen". Er wolle nur ungeschönt das Leben zeigen, den Alltag. Oder genauer: Einen winzigen Ausschnitt daraus, ohne jeden Anspruch auf Repräsentativität. Dialoge und Monologe in 140 Zeichen zwischen Komödie und Tragödie.

Bloß keine Selbstzensur

Selbst zensieren möchte er sich dabei nicht, Geschmackspolizei zu spielen liegt ihm fern. Dass seine Aufzeichnungen nicht nur für schnelle Lacher sorgen, sondern im Zweifel auch für die Verfestigung von Klischees, nimmt er dabei in Kauf. Es liegt außerhalb seiner Macht.

Dörtoluk selbst aber ist davon überzeugt, dass in jedem seiner "Opfer" Potenzial steckt, das nur erkannt und gefördert werden muss. Bei der Klischee-Chantal könne das etwa die imposante Durchsetzungsfähigkeit sein, die bei anderen in anderen Postionen als Führungsstärke gepriesen würde.

Und vielleicht, ganz vielleicht, erkläre sie, kaum dass er ausgestiegen ist, einer Freundin oder dem eben noch angezickten Jungen, wie das gehe mit der Lösung von Gleichungen mit zwei Unbekannten.

(tojo)
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