Düsseldorf Wenn Geschichte ein Gesicht bekommt

Düsseldorf · Jack Terry aus New York kam an drei Vormittagen ins Görres-Gymnasium, um von seinen Erlebnissen zu erzählen. Als Junge überlebte er das KZ. Als Psychoanalytiker half er Überlebenden des Nazi-Terrors, ihr Leiden zu verarbeiten.

 Jack Terry verlor durch die Nazis alles. Heute lebt er in New York.

Jack Terry verlor durch die Nazis alles. Heute lebt er in New York.

Foto: A. Bretz

Jack Terry ist ein Mann, den man nicht vergisst. In Levis-Jeans, schwarzen Turnschuhen und petrolfarbenem Rolli steht er im Musiksaal des Görres-Gymnasiums und stellt sich den Fragen der Schüler. Kaum zu glauben, dass dieser durchtrainierte agile Mann 85 Jahre ist. Kaum zu glauben, dass das, was er erlebt hat, wirklich passiert ist. Mit seiner offenen, aber auch sehr unaufdringlichen Art, macht er es leicht, Fragen zu stellen.

Und die Fragen der Schüler aus den Leistungskursen Englisch und Geschichte reißen gar nicht ab. Als die zwei Stunden seines Besuchs vorüber sind, kommen viele von ihnen zu ihm nach vorn, um sich persönlich bei ihm zu bedanken. Dann bleiben einige noch stehen und unterhalten sich weiter mit ihm. 1945, als die Amerikaner das Konzentrationslager Flossenbürg befreiten, da war er 15 Jahre alt, der jüngste Insasse des Lagers. "Das war der traurigste Tag meines Lebens. Denn mir wurde nun klar, was ich alles verloren hatte. Vorher hatte ich keine Gelegenheit, darüber nachzudenken", sagt Terry.

In einfachen Worten erzählt er den Schülern, wie er als Jakub Szabmacher in einem kleinen polnischen Ort in einer jüdischen Familie aufwuchs. Mit der Besatzung durch die Nazis verlor er alles. Zuerst wurde der Vater verschleppt und ermordet. Dann nach und nach die anderen Familienmitglieder. Terry erzählt, wie er mit seiner Schwester den erschossenen Bruder fand und beerdigte. Er erzählt, wie vor seinen Augen erst seine Schwester und dann seine Mutter erschossen wurde. Seine Erinnerung ist sehr scharf, er nennt alle wichtigen Personen im Lager mit Namen. Einzelne Worte seines damaligen Alltags wie "Wäscherei" und "Steinbruch" spricht er auf Deutsch aus. Und er spart sadistische Details der Mörder nicht aus. Nicht etwa, um zu schocken, sondern weil es eben so war.

"Glauben Sie an Gott?", möchte ein Schüler wissen. "Wie sah der Alltag im Lager aus?", eine Mitschülerin. "Jede Frage ist wichtig", findet Terry. Im Lager verlor er angesichts der unvorstellbaren Grausamkeit der nationalsozialistischen Mörder den Glauben an Gott. Er schildert, wie sich der Hauptgedanke im Lager um Essen drehte, dass er das Brot aus beiden darunter gehaltenen Händen aß, um keinen Krümel zu verlieren. Zeichen von Menschlichkeit gab es im Lager auch. Durch einen Tipp konnte sich der 15-Jährige im Heizungskeller der Wäscherei verstecken und entging so der Fahrt in den Tod. Die Amerikaner wurden seine Retter. In den USA baute er sich ein neues Leben als Jack Terry auf. Doch die Erlebnisse im Lager sind ein fester Teil von ihm. "Ich habe Flossenbürg verlassen, aber Flossenbürg hat mich nicht verlassen", sagt Terry. "Haben Sie sich gefragt, warum das alles geschah?", fragt eine Schülerin. Terry nickt. "Sehr lange Zeit und immer noch." Warum Menschen tun, was sie tun, diese Frage ließ ihn nicht los. Seinen Beruf als Ingenieur bei Ölfirmen ließ er ruhen, er sattelte um, studierte Medizin und wurde Psychoanalytiker.

"Was können wir tun gegen Rassismus?", fragt eine Schülerin. Schwer zu beantworten, findet Terry. "Ich bin dagegen", sagt er und lacht. "Ich ziehe das Individuum der Gruppe vor und unterscheide nicht zwischen Rassen." Ob er eine Botschaft für sie hat? "Es gibt nichts Besseres als die Freiheit. Verliert sie nicht. Seid nicht still, wenn ihr Rassismus und Vorurteilen begegnet. Ihr seid diejenigen, die verhindern können, dass sich diese Dinge wiederholen."

Einen Moment lauscht Terry seinen Worten nach und bemerkt: "Jetzt klinge ich wie ein Prediger."

(RP)
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