Düsseldorf Zwischen Wahrheit und Wahnsinn

Düsseldorf · Die Düsseldorfer Bearbeitung von Heinar Kipphardts Drama "März, ein Künstlerleben" gerät zur positiven Zumutung. Hervorragend ist einmal mehr das Ensemble. Bestechend Jakob Schneider in der Titelrolle.

 Jakob Schneider agiert überragend in der Hauptrolle des Stücks "März, ein Künstlerleben" von Heinar Kipphardt.

Jakob Schneider agiert überragend in der Hauptrolle des Stücks "März, ein Künstlerleben" von Heinar Kipphardt.

Foto: Hoppe

Der Raum ist eine Zelle und ein Labor des Lebens. Verschlossen, grau und hoch. An den Wänden hängen Fotoalben. Die Menschen, die hier mehr vegetieren denn leben, malen mit Kreide Spiralen an die Wand. Oder sie kauern am Boden.

Ein Bündel unter einer Decke wimmert wie ein Baby. In einer Ecke die Sprossenwand fast bis zum Himmel: Dort oben hängt Herr März wie Jesus am Kreuz. Er trägt eine Dornenkrone aus funkelnden Steinen. Seine Wunden sind nicht äußerlich, sondern sein Herz ist gebrochen. Sein Leben hat ihn um den Verstand gebracht. März, der Künstler, ist ein Schizophrener. Verroht ist er, was sein Verhalten betrifft. Vor allem mit ihm durchlebt der Zuschauer ein Leben voller Erinnerungen und Träume. Das Jetzt - die Schnittstelle von Vergangenheit und Zukunft - ist ein einziger Schmerz. Ein Alptraum.

"März, ein Künstlerleben" feierte am Samstag im Kleinen Haus Premiere. Auch die Uraufführung hatte einst in Düsseldorf stattgefunden, vor mehr als 30 Jahren. In einer Zeit, als die Gesellschaft begann, den psychisch Kranken wie auch den Umgang mit ihm neu zu befragen. "Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen" hieß das Buch der Amerikanerin Joanne Greenberg, in dem der Weg in die Schizophrenie teils autobiografisch beschrieben ist. Die Schizophrenie kann einen Ausweg aus den Widrigkeiten des Lebens bedeuten, lernte man damals. Nicht viel später schrieb Paul Watzlawick sein grundlegendes Werk "Wie wirklich ist die Wirklichkeit?", und der niederländische Psychiater wies mit seinem Buch "Wer ist aus Holz?" radikal neue Wege im Umgang mit psychisch kranken Menschen. Heinar Kipphardt, studierter Psychiater und spät berufener Dramatiker, ging vor allem der Frage nach, wie die Gesellschaft sich zu ihren kranken Mitgliedern verhält, wie sie diese einfach wegsperrt, und wie wenig in der Abgeschiedenheit einer Anstalt die emotionalen Bedürfnisse kranker Menschen befriedigt werden können. März' Leben in der Lohberger Anstalt gleicht einem Leben in der Mülltonne.

Bei diesem Bühnenstück landet der Zuschauer unvorbereitet mitten in der Psychiatrie. Im Zellenraum wird über zwei Stunden eine Untersuchung vom Leben in der Anstalt durchgeführt, neben Schizophrenie kommen Autismus und Verfolgungswahn vor. Diese Krankheitsbilder in ihrer Drastik zu erleben, grenzt für manch einen an eine Zumutung. Andererseits kann es eine Bereicherung darstellen für den Zuschauer, der sich darauf einlässt. Dank der empathischen Psychologisierung aller Rollen, dank des mehrfachen Rollenwechsels der meisten Darsteller wird man am Ende ein Herz für diese verzweifelten Menschen haben und dank dieser von Müller-Elmau angefertigten Textmontage erkennen, wie nah Wahrheit und Wahnsinn oft beieinander liegen.

März zum Beispiel hat in der Kindheit Ablehnung statt Liebe erfahren, wegen seiner Lippen-Kiefer-Gaumenspalte. März hat ein Mutter- und Vaterproblem, er hat ein Problem mit Liebe und Nähe, mit Sexualität und mit fast allen Dingen des Alltags. Deshalb fliegt er immer wieder aus der Kurve, deshalb ist er schizophren geworden, gespalten, angsterfüllt. März hört Stimmen, die ihn bedrängen. Jakob Schneider spielt, ja, er lebt diesen verzweifelten März auf der Bühne, drückt in jeder Pore seines bebenden Gesichts, mit jeder Bewegung seines berstenden Körpers, und mit einer unaufgesetzten Stimme das Unkalkulierbare seines ganzen Lebens aus. Eine großartige Leistung. Nicht minder bestürzend lebensecht sind seine Mitspieler, die Ärzte, Pfleger oder auch Kranke geben. Die Mutter und Doktorin versieht die großartige Manuela Alphons mit der Barschheit einer Lageraufseherin, weinselig-debil spielt Winfried Küppers, cool lächelnd Daniel Fries, vielschichtig Jonas Gruber. Zwei junge Frauen tarieren virtuos die Extreme aus: Katrin Hauptmann ist die Liebe und Hoffnung von Herrn März. Zur Musik von den Doors "Come on baby, light my fire" tanzen die beiden einmal ausgelassen, als gebe es kein böses Erwachen mehr. Schon bald aber obsiegt das Düstere dieses Stücks in Gestalt der rätselhaften Figur Kuhlmann (Bettina Kerl). Diese bewegt sich amöbenhaft durch die Szene, ohne ein Wort. Einmal schreit sie furchtbar laut und ein zweites Mal am Ende. Dieser Schrei zerreißt das Bild und jede Hoffnung - so ultimativ, wie Oskars Trömmelchen es in Günther Grass' "Blechtrommel" tut. März hat sich wieder in Kreuzigungsposition begeben. Das Spiel ist aus, der Versuch beendet.

Verständlich, dass der Applaus verhalten begann, um sich dann sehr zu steigern.

(RP)
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