Duisburg Genazinos gelassene Beobachtungen

Duisburg · Der Bestsellerautor Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim, findet das wahre Deutschland in jenen hässlich-faszinierenden Städten, wo man keine Stadtrundfahrten macht. In unserer Stadt gibt es seit einigen Jahren Stadtrundfahrten, Duisburg kann er also damit nicht meinen - oder?

Jedenfalls gastierte Genazino jetzt für den Duisburger Verein für Literatur und Kunst in der Zentralbibliothek, in der Reihe "ruhrSpott" des Literaturbüros Ruhr. Er las aus "Tarzan am Main" und anderen Texten wie dem Roman "Ein Regenschirm für diesen Tag", unterhielt sich darüber mit der Kulturjournalistin Dr. Gabriele von Arnim. Ausgangspunkt war natürlich Genazinos Wahlheimatstadt Frankfurt am Main, über deren "Direktheit und Schamlosigkeit" - sowohl in der Architektur als auch in der Mentalität - er wettert und wo er sich dennoch längst wohlfühlt. Er scheint zu der Mainmetropole ein ähnlich gespaltenes Verhältnis haben wie jene Kleinbürger, die nach seinen Worten "in die Hölle von Sachsenhausen fliehen".

Jedenfalls lässt sich Genazinos Grundprinzip der gelassenen Beobachtung auf der nie endenden Suche nach dem "Eigentlichen" in der Mainmetropole besonders gut verwirklichen. Kaum irgendwo stoßen der gierige Materialismus und die fröhlich subversive Kultur so "krass" (Genazino) aufeinander. Und auch für eines seiner Lieblingsthemen "Tiere in der Stadt" finden sich hier tolle Beispiele. So zum Beispiel jene Wildgänse aus Polen, die sich gerade und ausschließlich in Frankfurt in Massen niedergelassen haben.

Großartig auch jene Szene, wo Tauben sich an einer Ausflugsgaststätte auf nicht abgeräumte Pommes stürzen und sich dabei mit der Soße bekleckern. Hier lernten wir übrigens, dass Tauben fressen, solange etwas da ist, buchstäblich bis zum Umfallen. Das alles ist immer fein geschrieben, nur milde spöttisch und könnte oberflächlich wirken. Im Gespräch zeigte sich aber, dass es auch bei diesem Autor letztlich immer um die beiden einzigen wirklich existenziellen Themen geht: Sexualität und Tod. Aus Angst, vorzeitig zu sterben und dadurch ein Fragment zu hinterlassen, schreibt er immer nur kurze Texte, seine Romane haben nicht über 180 Seiten. Und für Genazino ist es nur ein kleiner Gedanken-Schritt von dem Frankfurter Fischmarkt, auf dem die Fische mit Hammerschlägen getötet werden, zur Patientenverfügung.

Beim für Duisburg nächsten "ruhrSpott" am Donnerstag, 5. November, um 20 Uhr, im Ruhrorter Lokal Harmonie, liest der "Ukraine-Erklärer" Andrej Kurkow aus seinem Roman "Jimi Hendrix live in Lemberg" und unterhält sich mit Gerd Herholz, dem Leiter des Literaturbüros Ruhr.

(hod)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort