Duisburg Im Meer der russischen Seele

Duisburg · Harry Rowohlt war zu Gast in der Duisburger Stadtbibliothek und sorgten an einem (zu) langen Abend für ein restlos ausverkauftes Haus.

 Ein Autor, Oleg Jurjew (li), der nicht singen kann, und ein Sprecher, Harry Rowohlt (re), der zu wenig zum Zuge kam, bei der Literaturveranstaltung in der Bibliothek.

Ein Autor, Oleg Jurjew (li), der nicht singen kann, und ein Sprecher, Harry Rowohlt (re), der zu wenig zum Zuge kam, bei der Literaturveranstaltung in der Bibliothek.

Foto: Probst, Andreas

Harry Rowohlt ist für jeden Literaturveranstalter ein zugkräftiger Name — immer noch. Und die Duisburger lieben ihn anscheinend so sehr, dass er in der Stadt inzwischen so eine Art Dauergast ist. Zuletzt war er 2012 im Grammatikoff. Übrigens: Die Liebe gelte auch umgekehrt, wurde dem Publikum am Freitagabend in der Duisburger Zentralbibliothek versichert. Das alles ist auch dem Verein für Literatur und Kunst nicht verborgen geblieben und so hat er Rowohlt zur diesjährig letzten Veranstaltung der Saison 2012/2013 dorthin eingeladen. Rund 350 Besucher folgten dem Aufruf und sorgten für ein restlos ausverkauftes Haus.

Doch der Abend war mehr als "nur" Literatur. Alte russische Seemanns- und Ganovenlieder wurden vorgetragen — mehr noch, sie wurden förmlich zelebriert. Diesen Part übernahm singend und an der Gitarre selbstverliebt sich selbst begleitend Oleg Jurjew, Autor des Romans "Die russische Fracht", dessen Text im Mittelpunkt der Veranstaltung hätte stehen sollen. So weit, so schlecht: Denn, um es vorwegzunehmen, der Abend war lang, zu lang, weil zum Schluss langatmig und ... Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Rowohlt Kurt Tucholsky mit den Worten zitierte: "Interessant, aber langweilig."

Dabei hatte alles so wunderbar kurzweilig, leicht und unterhaltsam begonnen. Jurjew, der zuletzt 2002 im Rahmen der Jüdischen Kulturtage NRW in der Zentralbibliothek zu Gast war, gab eine Art "Schiffsradio" ab, wie er seine Funktion im Zusammenspiel mit Rowohlt auf der Bibliotheksbühne benannte, indem er kleine Geschichten und Lieder teils mit, teils ohne "kriminelle Romantik" zum Besten gab. Nur drei Zeilen trug er aus seinem Roman vor, der 2009 im Suhrkamp-Verlag erschien, und diese auf Russisch, sehr zur Freude seiner übrigens recht zahlreich im Publikum sitzenden landsmännischen Freunde.

Die Rolle des Vorlesers war aber ohnehin "Aufgabe" von Harry Rowohlt, dem Sohn des berühmten Verlegers Ernst Rowohlt. Und er machte dies in bewährt kauziger Sprechlust, nuanciert, tongewaltig und treffsicher die Sprache Jurjews zu Gehör bringend, sich ganz in den Dienst des etwas hanebüchenen Romans stellend. Doch leider ganze vier Romankapitel dauerte sein Part nur. Dann gehörte der Abend den aber- bis irrwitzigen Geschichten, den Anspielungen und Zitaten aus der alten Sowjetzeit, den teils flachen Witzen, Kalauern, Anekdoten und banalen Alltagsepisoden - und dem nicht enden wollenden Autoren-Singsang. "Die russische Fracht" war zu später Stunde mit Liedgut trivialer Belanglosigkeiten überfrachtet, und war eher etwas für Leichtmatrosen, ohne Tiefgang.

Dabei ist der Roman ein durchaus lesenswerter, wenn auch anstrengender: Weniamin Jasytschnik muss aus St. Petersburg fliehen. Kriminelle haben seinen Stiefvater ermordet und sich dessen Firma angeeignet. Am Flusshafen winkt die Rettung. Doch der Frachter, den Jasytschnik besteigt, entpuppt sich als Geisterschiff: Während Kapitän Achov in seiner Kabine sowjetische Heldenlieder schmettert und Weniamins schöne Jugendliebe Zoë Schtekaturko übers Deck stöckelt, dösen in den Kühlräumen der Stiefvater, ein altes jüdisches Ehepaar und andere Untote. Jurjew schickt seinen Helden auf eine irre Odyssee, und er tut dies mit sprühender Fantasie und einer virtuosen Sprache.

Der Roman entfaltet seine wahre Kraft aber erst dann, wenn man das Hörbuch — eingesprochen von Harry Rowohlt und besungen von Oleg Jurjew, der den singenden Kapitän gibt — kennt. Dann befindet man sich mitten im Meer der russischen Seele.

Das Hörbuch live vor Ort, das wäre es gewesen.

(RP)
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