Duisburg Jüdisches Gemeindezentrum: Wo jeder Stein ein Buch ist . . .

Duisburg · Christlich-Jüdische Zusammenarbeit: Im Jüdischen Gemeindezentrum widmeten sich ein Symposium und eine Ausstellung dem Thema "Deutsche Autoren in jiddischer Übersetzung" aus Duisburgs litauischer Partnerstadt Vilnius.

 Patrick Marx vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde begrüßt die Teilnehmer des Symposiums.

Patrick Marx vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde begrüßt die Teilnehmer des Symposiums.

Foto: reichwein

Duisburgs litauische Partnerstadt, die litauische Hauptstadt Vilnius, wurde vor dem Holocaust das "Jerusalem des Nordens" oder "Jerusalem Litauens" genannt. Der Legende nach sollen diese Bezeichnungen auf Napoleon zurückgehen, der bei seinem Aufenthalt 1812 dort außergewöhnlich viele schwarz gekleidete Menschen mit langen Bärten sah.

Schon im Mittelalter wanderten Juden aus Deutschland nach Litauen aus. Im 18. Jahrhundert lebte dort eine Million Juden. Vilnius wurde zu einem Zentrum des Chassidismus (der jüdischen Mystik) und der Haskala (der jüdischen Aufklärung). Um 1900 war dort ein Zentrum des jüdischen Buchdrucks. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde in Vilnius viel deutschsprachige Literatur ins Jiddische übersetzt, darunter Werke von Thomas Mann, den Gebrüdern Grimm, Karl Marx, Gerhard Hauptmann, Ferdinand Lassalle und Siegmund Freud.

Jetzt widmeten sich im Jüdischen Gemeindezentrum ein eintägiges wissenschaftliches Symposium und eine kleine Buchausstellung dem Thema "Deutsche Autoren in jiddischer Übersetzung" aus Vilnius. Veranstalter waren das Salomon Ludwig Steinheim-Institut für deutsch-jüdische Geschichte an der Universität Duisburg-Essen sowie die Stadt Duisburg, die Jüdische Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen und die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Kooperation mit dem Moses-Mendelssohn-Zentrum Potsdam und unter der Schirmherrschaft des Botschafters der Republik Litauen.

Motto war ein Zitat aus einem Gedicht eines jiddischen Dichters aus "Vilne", dem zufolge dort "jeder Stein ein Buch ist". Prof. Dr. Michael Brocke, langjähriger Leiter des Steinheim-Instituts, und Prof. Dr. Stefan Schreiner (Tübingen) führten in ihrem Vorträgen mit umfassenden Kenntnissen ins Thema ein. Die jiddische Sprache entstand im Mittelalter auf der Grundklage des Mittelhochdeutschen, mit hebräischen, aramäischen, romanischen und slawischen Elementen. Ursprünglich wurde die "Mameloshn" (Muttersprache) dazu verwendet, die Thora Wort für Wort aus dem Hebräischen zu übersetzen und dadurch zu lernen. Später entstanden auch Übersetzungen anderer Bücher ins Jiddische - so fanden Archäologen in Köln zufällig eine mittelalterliche Scherbe, fein mit hebräischen Buchstaben beschrieben: das Fragment eines ansonsten unbekannten, nicht ganz jugendfreien Ritterromans.

Inzwischen hat das Jiddische 60 Dialekte, und was man heute als "Jiddisch" lernt, ist eine (übrigens in Vilnius entwickelte) Kunstsprache, die nie irgendwo gesprochen wurde. Das litauische Jiddisch ist für deutschsprachige Leser relativ leicht zu verstehen, denn es ist zu 85 Prozent deutsch und enthält kaum Slawismen. Besonders interessant erschienen Prof. Schreiners aktuelle Fotos der jiddischen Verlage, Bibliotheken, Theater und Institute, sofern die betreffenden Gebäude in Vilnius noch existieren. Ironie der Geschichte: Ausgerechnet die deutschen Besatzer im Ersten Weltkrieg regten die Gründung des ersten jiddischen Theaters in Vilnius an, und ausgerechnet im jüdischen Ghetto von Vilnius unter den Nazibesatzern las man deutsche Literatur - in jiddischer Übersetzung.

Umfangreiche Dokumente und jiddische Buchbestände aus Vilnius überstanden den Zweiten Weltkrieg und warten nun in Bibliotheken in New York und Vilnius auf ihre Aufarbeitung. Da hat die Wissenschaft noch viel zu tun. Die Duisburger Tagung war dazu ein erfreulicher erster Schritt.

(RP)
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