Duisburg Theater pocht aufs Bleiberecht

Duisburg · Olaf Reifegerste inszeniert "Herr Paul" von Tankred Dorst für die Akzente im Ruhrorter Lokal Harmonie. Behutsam wird das Stück in den Duisburger Hafenstadtteil verlegt und gewinnt so an wirklichkeitsnaher Brisanz.

 Wirklichkeitsnahe Brisanz auf den Bühnenbrettern, hier in einer Szene mit Axel Gottschick (Herr Paul), Friederike Schmahl (Luise) und Peter G. Dirmeier (Projektentwickler Jockel).

Wirklichkeitsnahe Brisanz auf den Bühnenbrettern, hier in einer Szene mit Axel Gottschick (Herr Paul), Friederike Schmahl (Luise) und Peter G. Dirmeier (Projektentwickler Jockel).

Foto: thomas Weiss

Mit "Herr Paul" hat Tankred Dorst 1994 das "Stück des Jahres" geschrieben. Schon damals traf der Autor den Nerv der Zeit, indem er einen Mann schildert, der sich weigert, das zu tun, was die Gesellschaft von ihm erwartet. Olaf Reifegerste, studierter Theaterwissenschaftler und jahrelang Koordinator der Duisburger Akzente, hat sich jetzt für seine eigene Akzente-Produktion den modernen Klassiker noch einmal vorgenommen und ihn bearbeitet. Vor allem verlegte er die Handlung des Stücks nach Ruhrort. Und im Ruhrorter Lokal Harmonie fand er einen Aufführungsort, der dazu beiträgt, dass sich Theater und Wirklichkeit treffen.

Herr Paul, so die erzählte Bühnengeschichte, lebt, besser gesagt: haust, zusammen mit seiner Schwester in einer ehemaligen Eisenwarenhandlung. Er wohnt dort mietfrei, weil sich das aufgrund besonderer Lebensumstände so ergeben hat: Einst gehörte das Gebäude seinen später verarmten Eltern. In die skurrile geschwisterliche Idylle bricht Projektentwickler Jockel ein, der das Gebäude geerbt hat und der nun versucht, mit Hilfe eines reichen Grafen, der in Immobilien investieren möchte, die Wohnung in ein exquisites Antiquitätengeschäft umzuwandeln. Mit dem Bewusstsein, das Recht auf seiner Seite zu haben, versucht Jockel, Herrn Paul dazu zu überreden, die Wohnung zu räumen und in die oberen Stockwerke zu ziehen. Die stehen seit Jahren leer. Doch Herr Paul ignoriert die mehr oder weniger höflichen Aufforderungen zum Auszug.

"Herr Paul" ist also eine Widerstandsgeschichte. Die Titelfigur hat Autor Tankred Dorst wie einen modernen Oblomow oder Bartleby konzipiert, zwei Verweigerer aus der Weltliteratur (Iwan Gontscharow und Herman Melville). Olaf Reifegerste rückt bei seiner Inszenierung aber weniger die literarische Tradition in den Mittelpunkt, vielmehr greift er die aktuelle gesellschaftspolitische Diskussion auf, bei der das Fremdwort "Gentrifizierung" immer häufiger auftaucht. Bezeichnet wird damit vor allem der Wandel in Stadtvierteln, gelegentlich auch auf Inseln (Paradebeispiel ist Sylt): Die angestammten Bewohner passen nicht mehr in die alte Wohngegend, weil diese im großen Stil "aufgewertet" wird. Sozial Schwache werden durch (Neu-)Reiche verdrängt, indem nach aufwendigen Renovierungsmaßnahmen die Mieten drastisch erhöht werden.

Der Kunstgriff bei Reifegerstes Inszenierung besteht darin, dass dieses real existierende Problem auf bisweilen märchenhaft-surreale Weise präsentiert wird. Dazu trägt auch die Musik von Wolfgang van Ackeren (Klavier, Glockenspiel), Dirk Friedrich (chromatische Mundharmonika) und Heiner Rosch (Theremin, Trompete) bei, die an entscheidenden Stellen per Band eingespielt wird. Friederike Schmahl spielt die gern in anderen Sphären schwebende Schwester stets ein wenig entrückt. Sie spricht nicht, sondern deklamiert.

Peter G. Dirmeier als Projektentwickler mit finanziellen Nöten spielt glaubhaft die Wandlung vom Möchtegern-Geschäftsmann zum resignierten Taugenichts. Silke Roca gibt frisch und komisch seine Freundin Lilo, die sich gerne ablenken lässt. Und Sascha von Zambelly trumpft als reicher Graf so auf, wie man sich das vorstellt. Axel Gottschick verkörpert seine Paraderolle souverän. Dieser Herr Paul verdrängt seine Verdränger und isst einfach den Wohnungsauflösungsvertrag auf ("Ich habe ihn mir einverleibt") und speist seine Gegenspieler mit der Weisheit ab: "Wer lebt, stört." Herr Paul geht im Stück nicht fort. Wenn Jockel ihn mit einer Axt zerstückelt (als Schattenspiel dargestellt), steht er einfach wieder auf. Das Theater pocht aufs Bleiberecht.

Die Vorstellung am 12. März ist schon ausverkauft. Hoffentlich gibt es bald weitere Wiederholungen. Mit Unterstützung der Firma Haniel wurde die Premiere gefilmt. Demnächst wird eine DVD mit diesem Mitschnitt veröffentlicht.

(pk)
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