Duisburg Vor 70 Jahren: "Wir leben noch"

Duisburg · Während viele Duisburger mit Feuerwerk und Partys das neue Jahr 2016 begrüßen, war der 31. Dezember 1945 von Hunger und Hoffnung auf Besserung geprägt. Der Duisburger Durchschnittsmann wog 67,5 Kilogramm.

 Der Krieg steckte den Menschen noch in den Knochen, als sie den Jahreswechsel 1945/ 1946 in bescheidenem Rahmen feierten. Das Bild zeigt symbolisch das zum großen Teil zerstörte Duisburg.

Der Krieg steckte den Menschen noch in den Knochen, als sie den Jahreswechsel 1945/ 1946 in bescheidenem Rahmen feierten. Das Bild zeigt symbolisch das zum großen Teil zerstörte Duisburg.

Foto: rp-archiv

Es war Montag und Silvester. Kein Feiertag. Die Verhältnisse, unter denen nahezu alle Duisburger damals lebten, waren trostlos. Es türmten sich mehr als 5 Millionen Kubikmeter Schuttberge an den Straßenrändern und wohin man auch schaute, sah man Ruinen oder schwer beschädigte Häuser. Ein Drittel aller Wohnungen war vernichtet, ein weiteres Drittel stark beschädigt. Viele Familien waren auseinandergerissen. An einigen Wänden zerstörter Häuser standen Mitteilungen von Menschen, wo sie zu finden waren. "Wir leben noch" lautete die Botschaft.

Etwa 170.000 bis 180.000 Evakuierte, Kriegsheimkehrer und Flüchtlinge strömten 1945 in das zerstörte Duisburg und trugen damit zur Verschärfung der ohnehin angespannten wirtschaftliche Lage bei. Die Versorgung mit Lebensmitteln war katastrophal. Die Kalorienzahl lag je nach Zuteilungsperiode zwischen 1010 und 1350 Kalorien. Der Duisburger Durchschnittsmann brachte es auf 67,5 Kilogramm, so die Messergebnisse der britischen Militärregierung. Die meisten Wohnungen konnten kaum geheizt werden, es war kalt an diesem Silvestertag. Eine Typhus-Epidemie forderte 53 Tote. Am 28. Dezember 1945 hatte zudem ein Orkan Duisburg heimgesucht. Fenster waren notdürftig gegen Kälte und Wind mit Pappe vernagelt. Nur selten sah man hinter einem intakten Fenster einen Weihnachtsbaum. Aber trotz allem war dieses Silvester 1945 zum ersten Mal seit Jahren ein friedlicher Jahreswechsel mit der Hoffnung auf bessere Zeiten.

Der Mittagstisch bestand damals meist aus Steckrübensuppe mit Graupen oder Mehlschwitzen. Eichelblutwurst (Weißbrotwürfel ersetzten die Fettstückchen), falsche Leberwurst, Gänseblumensalat, Kohlrübensteak gehörten damals zu den kulinarischen Rennern. Not machte erfinderisch. Das Bügeleisen wurde zur Kochplatte. An allem wurde gespart und nur wenigen gelang es, für das Neujahrsessen Eier, Zucker oder gar einen Braten zu organisieren. Marientorgelände und der Ruhrorter Hafen waren als Schwarzmarkt einschlägig bekannt. Bei gutem Wetter konnte man mit der Fähre "Rheingold" von Ruhrort nach Homberg übersetzen, um bei den linksrheinischen Bauern Lebensmittel zu beschaffen.

Die Fähre war auch ein Treffpunkt zwielichtiger Gestalten für den Schwarzhandel, schreibt der Zeitzeuge Viktor Waamelink. "Hamstern" und "Tauschgeschäfte" waren halt überlebenswichtig. Kinos , Konzertsäle und Tanzlokale entstanden aus Ruinen. Bereits 1945 eröffnete Heinrich Kamp mit seinem Sohn das Odeon und Provi in Hamborn. Ein unbändiger Lebenshunger trieb die jungen Menschen mit leerem Magen auf die Tanzböden, wo Männermangel herrschte. Auch der "Leitfaden für britische Soldaten" und Verbote konnte am Silvesterabend und darüber hinaus enge Beziehungen zwischen Besatzungssoldaten und Duisburger Frauen nicht verhindern. Der Jahreswechsel war eher von dem Gefühl "Wir sind noch mal davon gekommen" geprägt.

1945/46 war der Wiederaufbauwille deutlich spürbar. Die Zechen hatten inzwischen den Betrieb wieder aufgenommen, aber das Herzstück Duisburgs, die Stahlindustrie, war besonders hart getroffen. Nur 10 Prozent der 40 Hochöfen waren produktionsbereit. Die "Hütte Phoenix" in Laar und Ruhrort war zu 80 Prozent zerstört, die "Hütte Vulkan" Hochfeld zu 40 Prozent. Mannesmann in Hüttenheim und die Hahnschen Werke in Großenbaum weniger. Aber das Hauptproblem war die Zerstörung Verkehrswege und der Infrastruktur. Da Straßen- und Eisenbahnlinien gar nicht in der Lage waren, große Mengen von Gütern zu transportieren, setzte man alle Hoffnungen auf den Wassertransport. Die gesprengten Rheinbrücken blockierten die Rheinschifffahrt. Dazu musste erst einmal der Rhein schiffbar gemacht werden; das heißt 313 gesunkene Schiffe mussten gehoben und gesprengte Brücken beseitigt werden. Immerhin konnte im März 1946 die Aackerfährbrücke wieder eröffnet werden.

Die Zerschlagung der Duisburger Industrie stand bei den Besatzungsmächten mit der Konferenz von Potsdam seit dem 2. August 1945 auf der Agenda. Zusätzlich wurde der zügige Wiederaufbau der Industrieunternehmen durch befristete Erlaubnisse (Permits) erschwert. Über der August-Thyssen-Hütte und der Niederrheinischen-Hütte Hochfeld schwebte weiter das Damoklesschwert der Demontage. Bevor die Alliierten einen wirtschaftlichen Aufbau zulassen wollten, sollte die "Entnazifizierung" und "Reducation" vorangetrieben werden. Die Verhaftung des Klöckner-Chefs Günter Henle am 1. Dezember 1945 spiegelt die Bewertung der Schuldfrage aus Sicht der Alliierten wider. Henle verbrachte den Jahreswechsel im Lager und durfte erst zwei Jahre später am 31.12.1947 wieder sein Büro betreten. Von den Demontageplänen war insbesondere die ATH betroffen. Der damalige Oberbürgermeister, Dr. Heinrich Weitz, arbeitete eng mit der lokalen Schwerindustrie und anderen Kreisen der Wirtschaft zusammen. Bei der ersten Kommunalwahl 1946 erreichte die neu entstandene CDU die absolute Mehrheit der Ratsmandate. Adenauer stand im engen Gedankenaustausch mit OB Weitz. Er stellte bereits am 31. Oktober 1945 in einem Schreiben an Weitz fest: "Die Trennung in Osteuropa, das russische Gebiet, und Westeuropa ist eine Tatsache."

Auch bei einigen Politikern in den USA und in England setzte sich allmählich - wenn auch von unterschiedlichen Interessen getrieben - die Erkenntnis durch, dass eine hungernde Bevölkerung dem Kommunismus in die Arme laufen würde. Eine Änderung der Haltung der Militärregierung zur Demontage wurde durch den Beginn des "Kalten Krieges" mit der Sowjetunion befördert. Man brauchte Deutschland als Bündnispartner.

Die spätere politische und wirtschaftliche Entwicklung war für die Duisburger nicht vorstellbar. Zum Jahreswechsel fand OB Weitz pathetische Worte: "Ich habe das Vertrauen, dass allen Schwierigkeiten zum Trotz unser altes, liebes Duisburg wieder auferstehen wird und mit dem kommenden Frühling wieder größere Lebensfreude in die Herzen unserer braven Bürger einziehen kann."

(RP)
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