Emmerich Nebelschwaden im Jugendheim

Emmerich · Weißt Du noch? Unsere Autoren, alle vom Niederrhein, erinnern sich an ihre Jugendjahre auf dem platten Land zwischen Duisburg und Emmerich, zwischen Kleve und Wesel.

 Von außen hat sich kaum etwas geändert: Kaum zu glauben, dass sich im Jugendheim von St. Antonius Obrighoven einst 300 Fans bei der Schniedelwutz-Rocknacht drängten.

Von außen hat sich kaum etwas geändert: Kaum zu glauben, dass sich im Jugendheim von St. Antonius Obrighoven einst 300 Fans bei der Schniedelwutz-Rocknacht drängten.

Foto: Latzel

Schniedelwutz-Rocknacht. Zugegeben. Knapp 30 Jahre später klingt das doch relativ bescheuert. Damals hielten wir den Namen für megacool. Wir, das war die KJG Sankt Antonius Obrighoven. KJG bedeutet Katholische Junge Gemeinde. Ein Name, der damals noch Programm war. Die KJG war eine eingeschworene Truppe Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener, für die Kirche und Glaube vielleicht nicht das wichtigste, aber eine gemeinsame Konstante war. Es gab Pfingstfahrten, Jugendmessen, liturgische Nächte, eine Teestube mit dem obskuren Namen "Wippidu", schließlich Discos für 99 Pfennig Eintritt und eben der Schniedelwutz-Filmtreff, der der Rocknacht den Namen geben sollte. Im Filmtreff flimmerte seinerzeit im Jugendheim ganz subversiv "Das Leben des Brian" über den Fernseher (!). Leinwand oder Beamer waren damals noch Requisiten aus Science-Fiction-Filmen.

Jetzt also sollte es eine Rocknacht sein. Die Idee war schnell da und mit ihr die Probleme. Niemand von uns hatte nur annähernd Erfahrung damit, wie man so etwas auf die Beine stellt und woher man überhaupt die Bands nehmen sollte. Denn klar war von Anfang an: Viel kosten darf es nicht. Geld war nicht da.

Immerhin gab es den Veranstaltungsort. Das Jugendheim mit dem Charme der späten 60er Jahre. Ein 80 Quadratmeter großer, schmuckloser Saal mit dem Bild von Papst Johannes 23. an der Wand. Der Raum konnte zumindest damit trumpfen, dass es eine Theke gab. Irgendwann stand fest: Wir versuchen es. Grundsatz: Die Bands bekommen einen Kasten Bier und 100 Mark. Tatsächlich gelang es unseren "Band-Buchern" Billy, Martin und Katrin, vier Combos aufzutreiben, die bereit waren, zu diesen Konditionen die Instrumente auszupacken. Besonders stolz waren wir, dass alle Bands "von weiter weg" kamen: aus Rheinberg und Emmerich. Damals Weltreisen entfernt.

 Sebastian Latzel heute und im zarten Alter von 18.

Sebastian Latzel heute und im zarten Alter von 18.

Foto: sey / privat

Beim Treffen mit den Bands fühlten wir uns wie Musikmanager. Mit einem Problem: Wir hatten nun mal keine Ahnung. Und als die Musiker anfingen, DI-Boxen für die akustische Gitarre und besondere Monitorlautsprecher auf die Liste ihrer Wünsche zu setzen, gab es bei uns zwei Fragen: Was kostet das? Was ist das überhaupt? Vermutlich hätten wir an dem Abend alle die Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule bestanden, denn keiner merkte, dass wir absolut keine Ahnung hatten. Als alle Bands zugesagt hatten, wanderte deren Technik-Wunschliste in den Papierkorb und wir schauten, was wir für unser Budget von 200 Mark an Technik für die Bühne auftreiben konnten. Immerhin gehörten dazu ein Mischpult und die Gesangsanlage. Für Monitor-Lautsprecher war schon gar kein Geld mehr da. Viel cooler fanden wir nämlich eine Nebelmaschine.

Alles lief nach Plan: Die Bands waren gebucht, Plakate kopiert und überall in Wesel an die Wände gepappt, auch der Pastor hatte sein Einverständnis gegeben. Doch beim Ausräumen des Jugendheimes fiel plötzlich eine Sache auf, an die niemand gedacht hatte. Es gab keine Bühne! Und Bands, die auf Augenhöhe mit den Fans spielen, war irgendwie eine öde Vorstellung. Experimente mit leeren Wasserkästen und Kisten folgten. Es war ein Trauerspiel. Die Rettung nahte schließlich über Kumpel Tobi, dem einfiel, dass im Weseler Bühnenhaus noch eine alte Bühne lagert. Da der Vater zufällig dort arbeitete, gab es tatsächlich das Okay, die Teile kostenlos auszuleihen.

Was glänzten die Augen als schließlich alles stand. Eine echte Bühne, ein echtes Konzert, alles selbst organisiert. Jetzt auch noch Soundcheck. Der erste Musiker enterte die Bühne, drehte die Boxen auf, schlug einen Akkord. Es machte Rumms - und alles war still.

Schlagartig fiel uns auf, dass die Leistung der Stromleitung nicht dadurch vervielfacht wird, dass möglichst viele Dreierstecker hintereinander gehängt werden. Sämtliche Sicherungen waren rausgesprungen. Sollte doch noch alles platzen? Da half nur Improvisieren. Mit möglichst vielen Kabeltrommeln wurden aus allen Räumen Leitungen in den "Konzertsaal" gezogen, ein paar Verstärker vom Netz genommen.

Tatsächlich konnte das Konzert doch noch pünktlich starten. Rund 250 Zuschauer drängten sich in dem Raum, es war höllisch laut, zu sehen war wegen der Schwaden aus der Nebelmaschine so gut wie nix.

Als die Rheinische Post nachher schrieb, die Rocknacht wäre ein Erfolg gewesen, waren wir stolz wie Oskar - und mancher in der Gemeinde am Rande des Nervenzusammenbruchs, weil in der Überschrift was von "Dunklen Nebelschwaden im Jugendheim" stand.

Doch der Anfang war gemacht. Elf Mal sollte die Rocknacht über die Bühne gehen, die zwischenzeitlich so etwas wie das größte privat organisierte Konzert in Wesel war. Bands wie Evil Wicht, Koma, Corpse Disgrace oder Concrete Flowers traten auf. Alle für einen Hunderter und einen Kasten Bier.

Größte Herausforderung war jedes Mal, den "Konzertraum" bis zum nächsten Morgen wieder in ein normales Jugendheim zu verwandeln. Denn Vorgabe der Gemeinde war, dass die Bücherei pünktlich nach dem Sonntagsgottesdienst öffnen musste. Der logistische Kraftakt gelang jedes mal. Zumindest der Büchereiraum war besenrein, auch wenn es teilweise leicht nach Alkohol und Zigaretten roch.

Aus heutiger Sicht unglaublich: Als Security reichten bei den Rocknächten die Brüder und deren Kumpel, Stress gab es trotzdem nie.

Rund 350 Zuschauer kamen in Spitzenzeiten. Dann war einfach Schluss. Aus der KJG war eine eher gereifte Truppe geworden, viele weggezogen. Heute ist das Jugendheim ein schmuckes und multifunktionales Zentrum. Kaum denkbar, dass hier noch mal dunkle Nebelschwaden durch die Räume ziehen. Schade eigentlich.

Sebastian Latzel ist Redakteur in Geldern

(zel)
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