Erkelenz Die Ruhe nach dem Sturm erleben

Erkelenz · Vor fünf Monaten ist Mohammed Housseinkher mit seiner Familie aus Afghanistan geflohen. In Erkelenz fand er endlich Frieden und hofft nun, ihn behalten zu dürfen. Eine Begegnung, die nachdenklich macht.

Die Geschichte von Mohammed Husseinkher beginnt drei Meter unter der Erdoberfläche. Während Bomben sein Heimatdorf Qalai Qazi zerstören, suchen er und seine Familie Schutz. Doch dort, wo Bürgerkrieg herrscht und die Taliban versuchen, Macht zu erlangen, gibt es keinen Schutz. Mohammed (23) fasst einen Entschluss. Er nimmt seine dreijährige Tochter und die Ehefrau. Die Drei fliehen aus ihrer Heimat Afghanistan. Seit fünf Monaten sind sie in Erkelenz und finden hier, was sie zuvor nicht kannten: "Man kann nachts schlafen, es ist so ruhig."

Als wir uns das erste Mal begegnen, steht Mohammed vor seiner Wohnungstür im dritten Stock. Im Treppenhaus hört man das leise Rattern der Türen, die lose in den Schlössern liegen und vom eisigen Durchzug bewegt werden. Aus den Wohnungen dringen fremde Worte und das Lachen tobender Kinder. Mohammed trägt T-Shirt und Badelatschen. Es dauert lange, bis der 23-Jährige bereit ist, seine Erinnerungen zuzulassen. "Afghanistan ist meine Heimat. Ich könnte nie schlecht darüber reden", sagt er. Erst langsam beginnt er, seine Geschichte preiszugeben. "Manchmal haben wir uns monatelang nur von Kartoffeln ernährt", sagt Mohammed. Doch der Appetit sei ihm sowieso vergangen, nachdem er mit ansehen musste, wie ein Mensch etwa 100 Meter neben ihm einen falschen Schritt machte und damit eine Landmine auslöste.

Mohammed Husseinkher kommt aus dem Bauerndorf Qalai Qazi. Es liegt etwa 50 Kilometer nördlich der afghanischen Hauptstadt Kabul. Etwa 1000 Einwohner leben in der Siedlung, die inmitten einer kargen Hügellandschaft liegt. Die Menschen ernähren sich dort von dem, was der trockene Boden hergibt. Wir sitzen im Wohnzimmer der Flüchtlingsunterkunft. Es gibt einen Fernseher, einen Schreibtisch, einen Teppich und ein Sofa, auf dem eine schwangere Frau sitzt. Mohammeds Tochter Shabnam (3) tobt und spielt mit zwei Altersgenossen. An Deutschland schätze er das friedliche Miteinander und die Menschlichkeit, sagt Mohammed, als er die Kinder beobachtet. "Im Supermarkt sagen die Leute guten Tag zu mir. Ich fühle mich zum ersten Mal wie ein Mensch." Er spricht gutes Englisch, außerdem Hindi und Arabisch. Einen Deutschkursus besuchen er und seine Frau ebenfalls. Ob Deutsch lernen schwierig sei? "Nichts im Leben ist schwierig, wenn einem etwas wirklich wichtig ist", sagt Mohammed. Weil es ihm unangenehm ist, in einer Menschenschlange zu stehen und um Hilfe zu bitten, will er schnell Deutsch lernen und arbeiten gehen. Schon als Kind habe er davon geträumt, eines Tages in einer Bank zu arbeiten.

Aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, Nordafrika und Osteuropa kommen täglich Menschen mit Träumen nach Deutschland. Armut, Krieg oder politische Verfolgung zwingen sie dazu, ihre unsichere Heimat zu verlassen. Immerhin 123 Flüchtlinge konnte das Amt für Kinder, Jugend, Familie und Soziales 2014 in Erkelenz unterbringen. Bei ihrer Ankunft in der Stadtverwaltung passt die Identität vieler von ihnen in eine einzige Plastiktüte. Sie bekommen eine Unterkunft, der Asylantrag wird gestellt. Dann folgt ein Termin beim Gesundheitsamt - eine Sonderleistung der Stadt Erkelenz.

Mohammed klagte damals über Schmerzen in der linken Körperhälfte. Die ärztliche Diagnose für den 23-Jährigen, der schon erste graue Haare im schwarzen Haar hat: zu viel Stress. Eine psychologische Ursache also. Mohammed versucht es mit Sport. Er läuft zwei Stunden lang, ohne Pause, rund um Erkelenz. Danach ist er so kaputt, dass ihm die Füße schmerzen. "Aber das war ein guter Schmerz", sagt er. "Besser, als der vorher."

Seine kleine Familie fühlt sich wohl in Erkelenz. Sie hat Ruhe gefunden, nach den Stürmen in der Heimat. Niemand weiß, ob sie von Dauer ist, oder nur eine kurze Atempause. Die Ungewissheit hat einen Namen: Asylbewerberverfahren. Es steht für Pro- und Contra-Argumente, die Mohammed nicht kennt. Er wartet, hofft und betet. Ein Happy End für seine Geschichte erhofft er sich davon nicht. Die Bilder in seinem Kopf und Lärm von 25 Bomben innerhalb weniger Tage schließen das aus.

Worauf der 23-Jährige hofft, ist eine positive Wende. Und Frieden, als Hauptdarsteller in der Lebensgeschichte seiner dreijährigen Tochter Shabnam.

(jessi)
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