Erkelenz Heiligabend - ein ganz besonderer Arbeitstag

Erkelenz · Wenn jeder am 24. Dezember Weihnachten feiern würde, stünde die Gesellschaft hilflos da. Für eine Grundversorgung werden, ganz klar, auch an diesem Abend helfende Hände benötigt. In der Theorie ist das eindeutig - doch wer übernimmt die Arbeitsschicht an Heiligabend schon freiwillig? Einrichtungen wie Kirchen, Pflegestätten, Kneipen und Krankenhäuser bleiben jedenfalls geöffnet.

 Carmen Paffrath begutachtet das Handgelenk eines kleinen Patienten.

Carmen Paffrath begutachtet das Handgelenk eines kleinen Patienten.

Foto: Jürgen Laaser

In der chirurgischen Ambulanz des Hermann-Josef-Krankenhauses in Erkelenz entscheidet ein jährlich wechselnder Rhythmus darüber, wer die Stellung hält. Für die Feiertage gilt ein Urlaubsstopp. Jeder muss an Heiligabend arbeiten. Carmen Paffrath hat in ihren 23 Jahren als Krankenschwester oft an Heiligabend gearbeitet. Sie ist alleinerziehend, ihre Tochter ist mittlerweile 24 Jahre alt. "Als ich mich für den Beruf entschieden habe, wusste ich, was auf mich zukommt", sagt sie mit fester Stimme. Äußerlich erscheint sie taff und zielstrebig. "In meinem Leben nehme ich vor allem zwei Rollen ein - Mutter und Krankenschwester. Ich habe kein Problem, Heiligabend zu arbeiten, da ich dann meine Krankenschwester-Pflicht erfülle."

In der chirurgischen Ambulanz ist der 24. Dezember meist ein ruhiger Tag. Statt der sonst erwarteten 250 Patienten kommen Heiligabend überwiegend Notfälle. Die häufigsten Verletzungen sind Verbrennungen, Schlagwunden, Verkehrsunfälle. Dafür wird Paffrath im Krankenhaus gebraucht, aber nicht nur von ihren Patienten, sondern ebenso von ihren Kollegen. Die erfahrene Krankenschwester unterstützt als "Mutter Teresa" der Station ihr Team, das vorwiegend aus jungen Kollegen besteht. "Für mich ist die Schicht an Heiligabend eine der schönsten", sagt sie. In der Vorweihnachtszeit werden Wichtelgeschenke besorgt und ein Tannenbaum geschmückt. Die Stimmung ist freundschaftlich, Ärzte und Pfleger freuen sich gemeinsam auf das Fest.

An Heiligabend entsteht in der Küche der Ambulanz nach und nach ein Büfett aus lauter Köstlichkeiten, von denen jeder etwas von zu Hause mitbringt. Die Krankenhausverwaltung geht über die Stationen, wünscht ein frohes Fest und übergibt kleine Präsente des Krankenhauses. Meist springt die fröhliche Stimmung auch auf die Patienten über. Auf den Gängen ertönt Weihnachtsmusik - niemand hat ein Gefühl von Einsamkeit.

Die gute Atmosphäre lockt jedes Jahr auch alleinstehende Menschen in die Ambulanz. Sie bringen Geschenke mit. "Es werden Verletzungen vorgetäuscht, damit sie bei uns sein können", erzählt die Krankenschwester bedrückt. "Obdachlose finden auch ihren Weg zu uns. Sie setzen sich unter den Tannenbaum, und wir bringen ihnen einen Kaffee zum Aufwärmen." In den Momenten, sagt Paffrath, spüre sie, dass sie gebraucht werde. "Mutter bin ich erst wieder am nächsten Morgen."

Bei dem Rollendilemma ist der Mutter besonders Ehrlichkeit wichtig: "Ich habe meiner Tochter immer erklärt, warum ich arbeitete. Ich habe sie nicht weniger lieb dadurch." Wie Tochter Julia Heiligabend verbrachte, orientierte sich an ihrem Alter. Als sie jung war, blieb sie meistens bei ihren Großeltern. Die Krankenschwester stieß nach ihrer Schicht um 22 Uhr dazu. Es lief relativ einfach, Julia akzeptierte es, denn sie kannte es nicht anders. "Die Zeit im Kindergarten war knifflig. Dort brachten die Erzieherinnen den Kindern bei, dass Weihnachten ein Familienfest ist." Doch auf die verständnislosen Fragen der anderen Kinder hatte Julia stets eine klare, stolze Antwort parat: "Meine Mama rettet Leben."

Ein paar Jahre später verbrachte die Tochter mit ihrer Mutter Heiligabend in der Ambulanz. Sie brachte Plätzchen mit und fühlte sich wohl unter den Kollegen. Heute ist eingetreten, was ihre Mutter nie gedacht hätte: Julia studiert Sozialpädagogik, arbeitet in einem Kinderheim und hat sich dieses Jahr freiwillig für die Schicht an Heiligabend gemeldet. Ihre Tochter scheint durch das Vorbild zweierlei mitgenommen zu haben: Nächstenliebe und die Bereitschaft, eigene Bedürfnisse für die Gemeinschaft zurückzustellen. Ganz ausfallen wird Weihnachten bei Paffraths nie. "Die Lösung für alles ist: Sich nicht auf einen Termin festlegen", erklärt Mutter Paffrath. Schließlich blieben neben dem 24. Dezember noch der erste und zweite Weihnachtsfeiertag oder aber der vierte Advent als Ausweichtermine. In den vergangenen Jahren organisierte die Familie ihr großes Fest immer am vierten Advent.

Heiligabend frühstücken Carmen Paffrath und ihre Tochter gemeinsam und abends, nach Ende ihrer Schicht, so ab 22 Uhr, treffen sich beide wieder, und es gibt Geschenke. Weihnachten ohne Arbeit kann Paffrath sich nicht vorstellen. Ihr würde das Krankenhaus fehlen, ihre Station sei zu ihrer zweiten Familie geworden. "So schnell bekommt mich keiner hier weg. Ich bleibe bis zur Rente", sagt sie und lacht.

Um an Heiligabend die Zeit der Trennung zu überbrücken, ist bis heute eine Tradition zwischen Mutter und Tochter geblieben: das Krankenhausgeschenk. Carmen Paffrath bekommt etwas Nützliches für die Arbeit und Julia eine trostspendende Aufmerksamkeit, die sie an ihre Mutter erinnert - die sicherlich bald nach Hause kommen wird.

(jpk)
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