Erkelenz Im Bauxhof eine neue Heimat gefunden

Erkelenz · Minna Bersuch und ihre Familie wagten vor Jahren den Schritt in eine ungewisse Zukunft - eine Entscheidung, die genau die richtige gewesen ist.

 Minna Bersuch hat im Bauxhof eine neue Heimat gefunden. Zur Familie gehören inzwischen auch fünf Enkelkinder.

Minna Bersuch hat im Bauxhof eine neue Heimat gefunden. Zur Familie gehören inzwischen auch fünf Enkelkinder.

Foto: Ruth Klapproth

"Wir sind im Märchen!" Das war der erste Gedanke der damals 13-jährigen Lydia, als sie zum ersten Mal die neue Wohnung der Familie im Bauxhof betrat. Das war im September 1992. Gemeinsam mit ihren Schwestern Irina (20) und Vera (16) sowie dem dreimonatigen Nachzügler Eduard war sie endlich mit ihren Eltern Minna und Eduard Bersuch dort angekommen, wo sie glaubten, ihre Zukunft zu haben.

In ihrer Heimat war die Familie ohne Perspektive, ohne Zukunft. Sie waren die Deutschen, die in ihrer russischen Heimat heimatlos geworden waren, die von einer Region in die nächste umgesiedelt wurden und für die auf einmal kein Platz mehr war - und auch keine adäquate Arbeit. Nicht für die damals 42 Jahre alte Buchhalterin Minna, die in einer Personalabteilung für mehr als 1000 Beschäftigte zuständig war, ebenso wenig wie für ihren gleichaltrigen Ehemann Eduard, der als Hauptelektriker für die Elektrifizierung großer Streckenabschnitte der Transsibirischen Eisenbahn mitverantwortlich war. Von 1967 bis 1985 lebten die Eheleute in Kirgistan, nachdem zuvor das Altai-Gebirge ihr Platz gewesen. Von Kirgistan wurden sie nach Tschara in Nordsibirien versetzt.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ging es zurück nach Kirgistan, nach "Klein-Berlin" in Sokuluk, einer Siedlung in einer Provinzstadt, in der viele Russland-Deutsche Häuser gebaut hatten und lebten. Doch war mit dem Ende der UdSSR die Sympathie für die deutschen Russen im ehemaligen Bruderstaat Kirgistan dahin. Sie wurden als "Faschisten" beschimpft, bekamen die schlechteste Arbeit mit den schlechtesten Löhnen. "Das sollte unsere Zukunft sein?", fragt Minna Bersuch rückblickend, derweil sie am Küchentisch in ihrem Haus in Erkelenz in der Teetasse rührt. Ein Leben ohne berufliche Perspektive, ein Überleben dank Garten und Kleinviehzucht, nur Gelegenheitsarbeit für die Kinder? "Man wollte uns nicht mehr."

"Hier haben wir unsere Zukunft gefunden"

Sie entschlossen sich zu einem Schritt in eine ungewisse Zukunft im Land ihrer Vorfahren. Die Ausreise als russlanddeutsche Übersiedler war dank Unterstützung von Bekannten in der Verwaltung in Sokuluk schnell genehmigt. Von Bischkek über Moskau ging es per Flugzeug nach Düsseldorf. Nach der Aufnahme in einem Lager in Bramsche erfolgte der Umzug in den Bauxhof in Erkelenz. "Hier haben wir tatsächlich unsere Zukunft gefunden."

 Von 1967 bis 1985 lebte Minna Bersuch mit ihrem Mann Eduard unter einfachsten Bedingungen in Kirgistan.

Von 1967 bis 1985 lebte Minna Bersuch mit ihrem Mann Eduard unter einfachsten Bedingungen in Kirgistan.

Foto: Lehmkuhl Kurt

Natürlich ist die Zeit fortgeschritten, haben die Mädchen geheiratet und eigene Familien gegründet, ist der Ehemann verstorben, nachdem das eigene Haus bezogen worden war. Doch ändert das nichts an dem Glücksgefühl, den richtigen Schritt in die Zukunft gemacht zu haben, zumal sich Minna Bersuch in Erkelenz von Beginn an sehr engagiert hat und im Bauxhof schnell den Spitznamen "Bürgermeisterin vom Bauxhof" erhielt, weil sie mit jedem Anliegen der Übersiedler beim damaligen Bürgermeister Willy Stein vorsprach und weil sie von Stein angefordert wurde, wenn es galt, einen deutsch-russischen Dialog für alle Seiten verständlich zu machen.

Nein, zurück in die Vergangenheit will niemand aus der Familie. Besuche in Moskau, am Baikalsee und auch in Sokuluk bestätigen ihnen bei Gesprächen mit dortgebliebenen Russlanddeutschen, dass der Schritt ins Ungewisse damals der richtige gewesen war. "Die Menschen in unserer alten Heimat sind immer noch unsere Freunde, mit denen wir auch telefonieren. Aber das Land ist nicht das unsere."

Minnas Land ist Deutschland, in dem sie mit ihrer Familie auch an Heiligabend dankbar zurückschaut auf alle, die ihr geholfen haben, hier heimisch zu werden. Den Mitarbeitern in der Stadtverwaltung ebenso wie den Bürgern in Erkelenz, die sie so herzlich aufgenommen haben, ihren ehemaligen Kollegen im Hermann-Josef-Altenheim - und auch den Ärzten. "Ohne die medizinische Versorgung, die es in Deutschland gibt, wären wir vielleicht schon alle tot", sagte die Frau, die eine schwere Erkrankung überstanden hat.

Die Heimat ist hier, die alte Heimat lebt in der Erinnerung und dem Gesang, der auch nach so vielen Jahren in Erkelenz guter Brauch geblieben ist. Da braucht es nicht unbedingt den deutsch-russischen Bauxhofchor Rjabinuschka, in dem Minna Bersuch selbstverständlich mitsingt. Gesang ist immer dabei, wenn gefeiert wird, ob bei einer Hochzeit oder bei einer Grillfeier im Garten. Dann kommt die russische Seele ein wenig zu ihrem Recht bei den Deutschen, die in Erkelenz ihre Zukunft gefunden haben.

(kule)
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