Abriss beginnt heute Immerather Dom - ein Wahrzeichen verschwindet

Erkelenz · Am Montag wird der Dom von Immerath abgetragen. Pfarrer Günter Salentin schaute wenige Tage vorher noch ein letztes Mal an der Kirche vorbei. Für den 73-Jährigen war es ein emotionaler Besuch an alter Wirkungsstätte.

 Pfarrer Günter Salentin hat in der Kirche St. Lambertus in Immerath unzählige Gottesdienste gefeiert.

Pfarrer Günter Salentin hat in der Kirche St. Lambertus in Immerath unzählige Gottesdienste gefeiert.

Foto: Andreas Bretz

Günter Salentin fällt es schwer an den Ort zurückzukehren, den er mit so vielen schönen Erinnerungen verbindet. Den Taufen und Hochzeiten, den unzähligen Gottesdiensten, die er in all den Jahren gemeinsam mit seiner Gemeinde in der katholischen Pfarrkirche St. Lambertus gefeiert hat. Im Dom von Immerath. Der 73-Jährige will das Gotteshaus noch einmal aus nächster Nähe sehen, bevor es heute von Baggern abgerissen und dem Erdboden gleich gemacht wird. Näher als 100 Meter kommt er aber nicht heran. Ein Bauzaun versperrt den Weg. "Betreten der Baustelle verboten", steht auf einem gelben Schild. Nicht Kirche oder Dom. Sondern nur Baustelle. Bezeichnend sei das, meint Salentin. Dabei stehe das Gebäude mit der Doppelturmfassade, dem Wahrzeichen der Region, doch noch. Auch wenn es längst entwidmet sei. Salentin schüttelt den Kopf, steckt sich die Hände in die Winterjacke und blickt sich um. Er steht in einem Geisterdorf.

 Der Blick auf die Front des Doms.

Der Blick auf die Front des Doms.

Foto: Michael Heckers

Das seit 1972 zu Erkelenz gehörende Örtchen muss dem gigantischen Braunkohletagebau Garzweiler II weichen, wie bereits viele Dörfer zuvor. Bis auf einige wenige Menschen, die man an einer Hand abzählen kann, wohnt niemand mehr in Immerath. Die meisten sind umgesiedelt worden. Ein paar Kilometer weiter nach Neu-Immerath. Mit dem heutigen Abriss der neuromanischen Kirche wird das letzte Kapitel des Dorfes zugeklappt — und der Dom zum Symbol einer zerstörten Kulturlandschaft.

Salentin kratzt sich am Hinterkopf. Er meint in der Ferne noch einen der verbliebenen Bewohner Immeraths ausgemacht zu haben. Einen Landwirt, der sich mit RWE wohl noch nicht über eine Entschädigung habe einigen können, wie Salentin vermutet. Er kann das gut verstehen. Manche hätten ihre Häuser mit viel Herzblut selbst aufgebaut. Das einfach aufzugeben, sei nicht leicht. "Sie hängen an dem, was sie aufgeben müssen", sagt er. So verhalte es sich auch mit dem Dom. Er selbst kennt noch den ein oder anderen, der nach dem Zweiten Weltkrieg mitgeholfen hat, die von Bomben zerstörte Kirche wieder aufzubauen. Salentin bekommt glasige Augen, als er davon berichtet, wie die Immerather damals Stein für Stein von weit herangekarrt haben, weil sie ihre Kirche zurück haben wollten. "Wenn man das weiß, versteht man auch, wieso Menschen an etwas hängen."

Die Beziehung der Immerather zu ihrem "Dom" ist immer eng gewesen. Im Jahr 1887 beschloss der damalige Kirchenvorstand den Neubau von St. Lambertus nach einem Entwurf des Kölner Privatbaumeisters Erasmus Schüller, weil das alte Kirchengebäude den Ansprüchen der prosperierenden Gemeinde nicht genügte. Der Entwurf sah eine neuromanische Basilika vor; 1891 weihte der Kölner Weihbischof Antonius Fischer die Kirche mit den zwei markanten, 40 Meter hohen Glockentürmen ein. Die Immerather brannten die Feldbrandsteine selbst und schleppten die Tuffsteine, mit denen die Fassade verblendet ist, zur Baustelle. "Fast jede Familie im Ort hat eine Geschichte, die mit dem Dom verbunden ist", sagt Salentin. Das Gotteshaus schien für die Ewigkeit gebaut zu sein.

Das Dorf, die Häuser, die Kirche — bald wird Immerath für immer von der Landkarte verschwunden sein. Und damit die Wurzeln vieler Menschen. "Sie haben dann keine Möglichkeit mehr, an den Ort ihrer Kindheit und Jugend, zu ihrem Elternhaus zurückzukehren. Nie wieder", betont Salentin und zeigt auf ein großes Felder vor der Kirche, wo früher Häuser gestanden haben. Dabei fällt ihm spontan eine junge Frau ein, die ihren Sohn noch unbedingt vor der Entwidmung im Dom habe taufen lassen, weil auch ihre Eltern und sie selbst dort getauft worden seien. Und sie dort geheiratet habe. "Die Taufe meines Kindes, sagte die Frau mir damals, als sie mir ihre Bitte vortrug, soll meine letzte Erinnerung an die Kirche sein", erinnert sich Salentin. Das seien emotionale Dinge, die nichts mit materiellen Werten zu tun hätten und die deshalb auch nicht zu ersetzen seien. Durch keine noch so hohe Entschädigungszahlung.

Der Dom ist längst ausgeräumt. Die sechs Glocken sind weg, vier davon läuten in der neuen Pfarrkirche in Neu-Immerath. Auch ein großer Teil des Innenlebens ist erhalten geblieben. Ein Missionskreuz aus dem 14. Jahrhundert, eine Madonna und andere, kleine sakrale Gegenstände sind ebenfalls mit in die neue Kapelle gekommen. Der Rest des Interieurs, etwa der prachtvolle Altar, der zu groß für die Kirche in Neu-Immerath gewesen ist, stehen in anderen Kirchen. Als Salentin den Dom in diesem Zustand zum ersten und einzigen Mal sieht, ist er entsetzt. "Bänke und Figuren weg, Weihwasserbecken aus den Wänden gerissen. Ein Rohbau im umgekehrten Sinn. Das ist furchtbar gewesen, wenn man den schönen Raum vorher kannte", sagt er.

Salentin hat genug von seinem Dom gesehen. Er möchte zurück zum Auto, das vor dem Dorfeingang steht, weil alle Straßen nach Immerath mit Bauzäunen versperrt sind. Nur zu Fuß kann man sich noch halbwegs frei durch das Geisterdorf bewegen. Beim Rückweg erzählt er vom Abschiedsgottesdienst am 13. Oktober 2013, in dem symbolisch ein Turm aus großen Steinen ab- und aufgebaut worden ist. Zum Glockengeläut seien Hostienschale, Kelch und Evangeliar aus der Kirche getragen worden. Als Andenken habe jeder Gottesdienstbesucher einen Stein aus dem Mauerwerk der Kirche bekommen. Bewegende Momente seien das gewesen.

Als er wieder im Auto sitzt, schaut er noch einmal zum Dom. Ein letztes Mal. Zum Abriss will er nicht kommen. Es sei Zeit, nach vorne zu blicken.

(csf)
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