Erkelenz Trauer um die "Mutter der Obdachlosen"

Erkelenz · Elvira lebte in Düsseldorf auf der Straße, obwohl sie eine Wohnung hatte. Als die gebürtige Erkelenzerin vormittags gleich vor dem Kom(m)ödchen starb, war dies ein ebenso öffentlicher wie einsamer Augenblick.

 An der Mauer des Kom(m)ödchens gedenken Freunde der verstorbenen Elvira. Für den Kranz unten links sammelten die Obdachlosen mehr als 100 Euro. Er wird in dieser Woche zum Erkelenzer Friedhof gebracht.

An der Mauer des Kom(m)ödchens gedenken Freunde der verstorbenen Elvira. Für den Kranz unten links sammelten die Obdachlosen mehr als 100 Euro. Er wird in dieser Woche zum Erkelenzer Friedhof gebracht.

Foto: Anne Orthen

Fabio kann es immer noch nicht fassen. Der Obdachlose hockt sich vor dem Kom(m)ödchen auf den Boden, betrachtet das Bild von "Elli". Dort hält die 48-Jährige eine kleine Flasche Chantré in der Hand. Ihre Augen sind wach, sie wirkt fröhlich. Ein schönes Bild. Entstanden ist es an Heiligabend vor rund zwei Wochen. "Sie wollte, dass ich ihr zu Weihnachten einen Wodka schenke, doch das habe ich abgelehnt. Ein paar Stunden später stand sie mit einer Präsenttüte im Laden, darin lag der Chantré, sie freute sich unheimlich", erinnert sich Filiz, die den Kiosk "Süßland Shop" an der Hunsrückenstraße betreibt. Und doch ist der Schnappschuss vom 24. Dezember eine Täuschung.

Nur vier Tage später nickt die Sprecherin der rund 150 Verkäufer der Düsseldorfer Obdachlosen-Zeitschrift Fiftyfifty - vermutlich unter dem Einfluss von Alkohol und Drogen - ein. Passanten laufen vorbei, reagieren nicht. Schließlich fragt doch einer. Als die Antwort ausbleibt, ruft er den Notarzt. "Kurz sah es so aus, als könne man sie zurückholen, doch nach dem zweiten Wiederbelebungsversuch verstarb sie", sagt Fabio.

"Bei uns heißt es: Mache dir nur so viel Sorgen, wie du tragen kannst", sagt die kurdischstämmige Filiz und ist sicher, "dass es am Ende für Elvira einfach zu viel" war. Doch was trieb die Frau, die mit einem Lebensgefährten eine kleine Wohnung in Garath teilte, auf die "Platte", wie die Obdachlosen das Leben auf der Straße nennen? Antworten darauf schrieb die 48-Jährige in das Fürbitt-Buch, das in der von den Dominikanern betreuten Andreaskirche in Düsseldorf ausliegt. Sie fühlte sich alleingelassen, den Tod ihrer geliebten Mutter vor rund zwei Jahren hatte sie nicht verkraftet. "Zwei Nächte habe ich allein draußen geschlafen. Mit Feuerzeug in der Hand (Angst). Was soll ich denn tun allein? Meine innere Kälte wiegt schlimmer. Ewig betrunken - ewig irgendwas", notiert Elvira am 1. Dezember.

Oft schreibt sie in dem Buch die Gottesmutter direkt an. Der heiligen Maria gesteht sie, dass sie schon einmal ein oder zwei Kerzen mitnimmt, dass ihr das Licht eine Stütze ist. "Ich hab Angst vor dem Alleinsein. Ich bin nicht mehr so stark wie vorher. Hier finde ich Zuflucht. Doch ich fühle mich ,ausgegrenzt', als wäre ich aus Samaria."

Dabei war Elvira eine Frau, die lange Zeit gerne auf andere zuging. "Manchmal war sie anstrengend, konnte unter Druck auch mal sehr fordernd sein, vor allem aber war sie eine, die sich kümmerte, sich einsetzte - hilfsbereit und engagiert. Es war alles andere als ein Zufall, dass sie als Sprecherin der Zeitschriften-Verkäufer in unseren Beirat gewählt wurde", sagt Hubert Ostendorf von Fiftyfifty. Dass sie sich manchmal mehr um andere als um sich selbst sorgte, sagt auch Kiosk-Betreiberin Filiz. "Sie hat oft etwas abgegeben, auch wenn für sie selbst nichts mehr übrig blieb. Auf eine gewisse Art war sie die Mutter der Altstadt-Obdachlosen", meint die Geschäftsfrau, die neben der Hilfsbereitschaft vor allem den wachen Verstand ihrer Stammkundin schätzte. Filiz erinnert sich: "Sie hatte ein kleines Radio, war immer gut informiert. Oft haben wir über Politik gesprochen, zuletzt über den schrecklichen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin. Ich sagte, ich hätte in so einer Welt Angst um meine Kinder, aber sie antwortete: Das brauchst du nicht, sei doch froh, dass du Kinder hast. Elli war eigentlich eine Optimistin."

Darüber, was die oft vor Energie sprühende Frau mit bürgerlichem Hintergrund am Ende doch am Leben verzweifeln lässt, rätseln nun viele ihrer Freunde. "Sie hätte irgendwen gebraucht. Am Ende war sie ganz allein", sagt Simon. Der 41-Jährige übernachtet selbst im K13, einer Notschlafstelle für obdachlose Männer in Düsseldorf. "Ich hatte mal eine Wohnung in Wersten, doch dann zerbrach die Beziehung zu meiner Freundin, und jetzt bin ich auf der Straße", erzählt der Mann aus dem Ruhrgebiet.

Der Tod der 48-Jährigen (die nicht nachts, sondern am helllichten Tag starb) hat in den sozialen Netzwerken dennoch eine Debatte um die Notschlafstellen befeuert. "Musste doch nicht sein", kommentieren einige den Tod Elviras und schlagen unter anderem vor, im Zweifel Flüchtlingsunterkünfte auch für Obdachlose bereit zu stellen. "Solche Einschätzungen liegen vielleicht nahe, sie greifen aber entschieden zu kurz", sagt ein Mitarbeiter der franziskanischen Initiative "Vision.Teilen", die gemeinsam mit Fiftyfifty den "Gutenacht-Bus" für Obdachlose betreibt. In den Notschlafstellen gebe es nur Einzelzimmer, viele Paare wollten aber die Nacht nicht getrennt verbringen. Zudem gebe es nur eine Stelle, in die Hunde mitgebracht werden dürften. "Außerdem kostet die Übernachtung in aller Regel drei Euro. Das könnten manche zwar gerade noch aufbringen, aber das Geld fehlt ihnen dann am nächsten Tag", sagt der Mitarbeiter.

Dass manche Frauen und Männer "auf Platte" ganz bewusst den "Lebensmittelpunkt Straße" wählen, weiß auch Hubert Ostendorf. "Diejenigen, die eine Wohnung haben, halten es dort oft nicht aus. Dabei spielen häufig Drogen eine entscheidende Rolle." Um so dringender sei der Ausbau der Diamorphin-Abgabe. Der Stoff, der harte Drogen ersetzt, hätte auch das Leben von Elvira retten können, wenn er in Düsseldorf bereits früher verfügbar gewesen wäre - davon ist der Fiftyfifty-Geschäftsführer überzeugt.

In dieser Woche wird Elvira in Erkelenz, wo sie herstammte, beigesetzt. An der Mauer neben dem Kom(m)ödchen in Düsseldorf nehmen die, die sie kannten, mit Karten und berührenden Worten Abschied. Unter einem goldenen Stern von Bethlehem und dem Spruch "Es ist Zeit, sich gemeinsam auf den Weg zu machen" haben zwei Freundinnen das Kürzel R.I.P. (Ruhe in Frieden) notiert. Und ein anderer Freund schrieb in kritzeliger Schrift: "Schade, dass ein Mensch wie du, der sich für Arme eingesetzt und sich selber vergessen hat, von uns gegangen ist." Einer, der eine Kerze aufstellt, sagt: "Jetzt ist sie bei ihrer Mutter." Im Fürbitt-Buch der Andreaskirche hatte Elvira Ende November notiert: "Liebe Mama, zwei Jahre ist es her und ich bin immer noch nicht über deinen Tod hinweg. Vielleicht werde ich das nie sein."

(jj)
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