Erkelenz Umsiedlung, ein verdammt langer Prozess

Erkelenz · Gisela Berger ist selbst von der Umsiedlung betroffen. Mit ihren Mitstreitern vom Bürgerbeirat Immerath-Lützerath-Pesch nimmt sie sich zudem der Probleme und Anliegen ihrer Mitbürger an. Viel Arbeit im Kleinen und Verborgenen fällt dabei an. Und nicht auf alle Themen kann der Bürgerbeirat Einfluss nehmen.

Wie gefällt Ihnen Neu-Immerath bislang?

Berger Schwer zu sagen. Es ist eben nicht der alte Ort, sondern, so habe ich es von Anfang ausgedrückt, die beste der schlechten Alternativen. Natürlich ist es auch spannend zu sehen, wie das Dorf wächst, das wir auf Papier geplant haben. Langsam sieht man, was kommt. Aber es gibt noch so viele Baulücken, das dauert Jahre, bis die geschlossen sind. Mitbürger sind gestorben, andere haben sich entschlossen, doch nicht mit umzusiedeln, die fehlen jetzt.

Wissen Sie, wie hoch die Umsiedlerquote gerade liegt, wie viele Immerather mit an den neuen Ort ziehen?

Berger Bei 55 Prozent der Einwohner. Es wäre schön, wenn wir doch noch über 60 Prozent kommen.

Was passiert mit den Grundstücken, die nicht von Immerathern in Anspruch genommen werden?

Berger Zunächst müssen alle aus dem Ort versorgt werden, zum Teil tauschen die Leute noch. An einem Tag x werden die Grundstücke an Externe vergeben, dafür ist es jetzt aber noch zu früh.

Was sind gerade die großen Themen bei den Immerather Umsiedlern?

Berger Das Bauen steht im Vordergrund. 78 Prozent der Immerather sind jetzt in die Entschädigungverhandlungen mit RWE Power eingetreten. Wenn sie sich geeinigt haben, fangen die meisten zügig an zu bauen und fahren nur noch zwischen Alt und Neu hin und her. Anderen fällt es nach der Einigung schwer, sich zu entscheiden und die Umsiedlung in die Tat umzusetzen.

Wie ist insgesamt die Stimmung?

Berger Die, die bauen, haben viel Gesprächsstoff, kommen sich gegenseitig besuchen: Wie weit seid ihr, wann fangt ihr an, wie geht's? So wie man vorher über das Thema Entschädigung geredet hat. Die allerdings, die noch nicht so weit sind, sind von der bangen Frage beherrscht: Reicht die Entschädigung? Ich persönlich find's vor allem stressig, seit wir angefangen haben zu bauen. Man muss ständig etwas entscheiden, und wenn es nur die Farbe der Fliesen ist. Wie es allen Leute geht, lässt sich schwer sagen. Man ist ja nicht mit jedem im Gespräch, wir vom Bürgerbeirat können uns auch nur dafür einsetzen, dass die Rahmenbedingungen stimmen. Das hilft denen nicht, die sich mit der Umsiedlung grundsätzlich nicht abfinden können. Und dann gibt es jetzt so viele letze Male.

Das heißt?

Berger Das letze Pfarrfest im Immerath, den letzten Nierspokal, den letzten Geburtstag im alten Ort, ich pflanze das letzte Mal Blumen in meinem Garten und, und, und.

Und die ersten Male?

Berger Die fehlen noch.

Die Beschlüsse für den Neubau der sozialen Infrastruktur sind gefasst. Sind Sie zufrieden mit dem, was kommt?

Berger Es ist ein gutes Signal, dass wir wieder einen Kaisersaal, einen Kindergarten etc. bekommen. Die Hauptgebäude werden wieder errichtet. Gebäude wie die alte Schule wird es nicht mehr geben, aber der Entschädigungserlös wird in den neuen Kaisersaal fließen. Wir haben unser Ziel erreicht — daran gab es vorher viele Zweifel. Und es ist grundsätzlich zu begrüßen, dass der Rat zugestimmt hat, die fehlenden 400 000 Euro aus dem Stadtsäckel aufzubringen.

Wird der Bürgerbeirat so einbezogen, wie Sie sich das wünschen?

Berger Bei allem, was nicht direkt mit Entschädigungen zu tun hat, werden wir gehört. Wir haben bei der sozialen Infrastruktur auch die Vereine einbezogen, konnten die Entwürfe mit breiter Rückendeckung absegnen. Schwierig ist es, wo Entschädigungssachen an uns herangetragen werden, da kommen wir oft nicht weiter. Viele Dinge sind vertraulich — und dann steht Aussage gegen Aussage. Wir können nur immer wieder auf die Probleme aufmerksam machen. Das dient wohl mehr den Keyenbergern als uns.

Die Pläne zur Umsiedlung der Immerather Mühle sind geplatzt. Haben Sie noch Hoffnung auf eine Lösung?

Berger Ich habe immer gedacht: Das ist zu schön, um wahr zu sein. Von dieser Entwicklung bin ich nun aber doch enttäuscht. Die Mühle mit Senfproduktion wäre eine Attraktion für den Ort gewesen. Ich habe keine Idee, wie eine Alternative aussehen könnte. Das ginge nur mit einem privaten Investor.

Fast 150 Menschen wohnen jetzt am neuen Ort — fühlt sich die Dorfgemeinschaft inzwischen zerrissen? Wie überwinden Sie die Kilometer?

Berger Ich glaube, das werden wir ab dem nächsten Jahr erst richtig spüren. Aber ich mache mir jetzt schon Gedanken, wie ich die Geschäftestruktur im alten Ort stützen soll. Kaufe ich noch dort ein, auch wenn der zeitliche Aufwand groß ist? Bei Veranstaltungen werden Busse gestellt. Aber es wird immer schwieriger, je mehr nach Immerath (neu) ziehen.

Schaffen Sie's?

Berger Die Gemeinschaft wird es hoffentlich tragen. Die Vereine sind gut aufgestellt, sind der Aktivposten im Ort. Ich bewundere die Leute, die neben der eigenen Umsiedlung Veranstaltungen organisieren. Wenn wir alle hier sind, geht's aber weiter: Wir müssen auch das neue Dorfleben auf eine gute Basis stellen. Dafür ist es gut, dass der Bau der sozialen Infrastruktur bald beginnt.

Es gibt noch viele Einzelprobleme zu lösen, oder?

Berger Ja, ein großes Problem sind beispielsweise die Landwirte.

Warum?

Berger Die Vollerwerbs-Landwirte bekommen am neuen Ort kein Land, fühlen sich aber der Dorfgemeinschaft zugehörig. Sie müssen sich entscheiden, ob sie weiter im Dorf wohnen, aber dann eine weite Strecke zu ihrem Land in Kauf nehmen. Auf diese Themen hat der Bürgerbeirat aber kaum Einfluss.

Ihre Arbeit besteht stattdessen aus vielen kleinen Anregungen, Problemlösungen im Alltag. Können Sie ein Beispiel geben?

Berger Beispielsweise für einen Briefkasten fühlte sich weder RWE Power noch die Stadt Erkelenz zuständig. Wir mussten uns selbst darum kümmern, dass bald der Briefkasten aufgestellt wird. Oder die Wartehäuschen an der Bushaltestelle. Seit Januar sind wir an dem Thema dran. Das dauert alles so lange. Und die anderen Umsiedler denken dann, wir vom Bürgerbeirat tun nichts.

Im alten Ort müssen Sie mit den Folgen des Auszugs zahlreicher Nachbarn zurechtkommen. Wie gehen Sie damit um?

Berger Wo Leute ausgezogen sind, sieht es ungepflegt aus. Das fällt dann besonders bei Festen auf. Und so schreibe ich ein paar Tage vor dem Schützenfest an RWE Power: "Bitte sorgen Sie dafür, dass die Anwesen ordentlich aussehen."

Wird Ihnen genug geholfen?

Berger Wir haben regelmäßige Treffen mit RWE Power, bei denen wir solche Themen ansprechen. Es wäre schön, wenn das Unternehmen zum Beispiel die bereits von ihm erworbenen Grundstücke pflegen würde, ohne dass wir immer wieder darauf hinweisen müssen. Ein Erfolg aus diesen Gesprächen: RWE Power hat anerkannt, dass Vereinsleben nicht nur Feste sind, sondern auch Training, Proben oder das Schmücken des Ortes. Auf den zugesagten Betrag als Fahrkostenzuschuss warten wir aber aktuell noch.

Ein Thema sind auch Beerdigungen, oder?

Berger Ja, wir würden uns wünschen, dass bei Beerdigungen, die ja nun im neuen Ort stattfinden, ein Busdienst eingerichtet wird. Wie kommen die Älteren ohne Auto sonst zum Friedhof? Aber nach der Auffassung von RWE Power sind das keine öffentlichen Veranstaltungen. Auch bei der Grabpflege ist die Entfernung ein Problem. Eine ältere Witwe aus dem Ort sagt: "Ich ziehe nicht eher um als mein Mann." Der Bürgerbeirat hat sich dafür stark gemacht, dass erste Umbettungen, früher als ursprünglich geplant, schon ab Herbst 2010 stattfinden.

Wie wird der Abriss von Pesch laufen? Bis wann müssen alle Pescher ausgezogen sein?

Berger Sie können noch bis 2011 bleiben. Noch wohnen Leute im Ort, die noch nicht mit den Verhandlungen durch sind. Nach dem Abrisskonzept von RWE Power, das allerdings noch genehmigt werden muss, sollen im nächsten Jahr die ersten Arbeiten beginnen.

Alle Parteien bekennen sich in ihren Wahlprogrammen zu den Umsiedlern. Was erwarten Sie von der Politik — jenseits von Wahlversprechen?

Berger Ich erwarte, dass die Politiker die Sache aufmerksam verfolgen und Aktionen einleiten, wenn etwas schief läuft. Sie sind schon auf dem Laufenden und haben eine klare Zusage zur Infrastruktur gegeben. Ich weiß aber nicht, ob die Themen der Umsiedler wirklich erfasst werden, wenn man nicht selbst betroffen ist.

Wie machen Sie jemandem vom anderen Ende von Erkelenz oder einem Fremden klar, was Umsiedlung ist?

Berger Das ist schwer. Wir können nicht mehr, als die Probleme zu beschreiben. Die Gefühlslage mit dem Auf und Ab ist nicht zu beschreiben. Mal ist man total euphorisch im neuen Ort, mal sitzt man zu Hause im alten und fragt sich: "Hier sollst du weg?" Das Thema ist so komplex und vielfältig, und es ist so ein verdammt langer Prozess. Man muss unheimlich viel Geduld mitbringen.

(RP)
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