Geldern Der letzte Adventsbrief aus ihrer Feder

Geldern · Nach 23 Jahren hört Autorin Nicole Füngerlings (41) aus Walbeck auf. Eine Nachfolge für ihre schönen Schriftstücke zur Weihnachtszeit ist noch nicht in Sicht.

 Ihr Schreibtisch ist ihr Rückzugs- und Ruheort zugleich. Dort findet Nicole Füngerlings Zeit, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

Ihr Schreibtisch ist ihr Rückzugs- und Ruheort zugleich. Dort findet Nicole Füngerlings Zeit, ihre Gedanken zu Papier zu bringen.

Foto: Binn

Was jetzt? Aufhören? Keine Adventspost mehr von Nicole Füngerlings? Ungläubiges Erstaunen rüttelte ihre treue Fangemeinde wach, verbunden mit spontanen Protesten in Richtung Absenderin. Denn nicht nur die rund 90 Empfänger lesen inzwischen ihre jährlichen Geschichten aus dem puren Leben. Die Schreiberin weiß, dass ihre Briefe innerhalb der Familien und Freunde als Lektüre weitergereicht werden.

Im 23. Jahresbrief kündete die Walbeckerin das Ende der Ära mit ihrer Vorweihnachtspost an. "Ich habe das Gefühl, dass etwas Altes gehen darf und sich daraus vielleicht etwas Neues ergibt", zitiert die 41-Jährige aus ihrem aktuellen, zwölfseitigen Brief. Dann konzentriert sie sich im Schwerpunkt auf die kurzweilige Schilderung, wie der Geburtstag des Vaters als Familienausflug im Norden gefeiert wurde. So detailliert, dass Sohn Matti beim Vorlesen ihres Werkes vor dem Abschicken stöhnte: "Mama, musst du das erwähnen?" Sie hat sein lustiges Missgeschick nicht gestrichen.

An die ersten Briefe kann sich die Frau, von Beruf Trauer- und Sterbebegleiterin, nicht exakt erinnern. "Ich kann aber zurückrechnen, dass ich noch keinen Führerschein hatte und die Post mit dem Rad rund gefahren habe." Sie hatte die Idee ihrer Tante Marita verfeinert, 24 Windlichter an unterschiedliche Familien auf einer Liste zu verteilen. An jedem Tag im Advent sollte jeweils an eine Familie dieses Zirkels besonders gedacht werden, um sich in Gedanken verbunden zu wissen. Hinzu legte die junge Frau mal Gedichte, Basteleien, Besinnliches oder Rezepte. Innerhalb kürzester Zeit verdoppelte sich die Anzahl der Empfänger. "Das artete derart aus, dass ich zur besten Grillzeit im Hochsommer schon Weihnachtsbäume gebastelt habe. Aber für meine Freunde und Familie überhaupt kein außergewöhnlicher Anblick."

Als die Liste zu groß wurde, konzentrierte sich Nicole Füngerlings nur noch aufs Schreiben. Nicht etwa in chronologischer Abfolge, sollte man annehmen, sondern stets mit einem Leitthema. Je ein Schlüsselimpuls innerhalb der zwölf Monate verleitete die Autorin dazu, ihre Leserschaft in die Schilderung mitzunehmen. Heiteres wie der Urlaub mit der Familienbildungsstätte, Trödelmarkt-Szenen oder persönliche Aspekte, wie und was sich ab 40 wohl alles ändern oder nicht ändern könnte. Tiefgründiger, bewegender jedoch sind andere Briefe. Wie der, in dem sie sich in Schriftform mit dem plötzlichen Tod ihrer Mutter auseinandersetzt oder über das Mädchen Aurelia schreibt, das seinen Vater durch einen Unfall verlor.

Einen Coup landete sie mit der Lebensgeschichte ihrer Großmutter vor vier Jahren. "Was meine Oma alles erlebt hat. Vertreibung, viel Arbeit, Familie, Tod der Kinder und ihres Mannes. Von mir bekäme sie das Bundesverdienstkreuz", sagt die Mutter der Jungen Lasse (14), Janne (12) und Matti (10).

Wie üblich hatte sie 2012 vor dem ersten Advent ihre Post verteilt. Jedoch mit der Bitte an alle Lesenden, ihrer Oma zum anstehenden Geburtstag am Nikolaustag einfach möglichst viele Geburtstagsgrüße zu senden. Diese schönste Form des "Kettenbriefs" zeigte Wirkung. "Das war eine Superüberraschung für meine Oma, die damals erstmals ohne ihren Mann Geburtstag feierte", erfreut sich die Enkelin noch heute an der Aktion. All dies soll jetzt beendet werden? Nicole Füngerlings bleibt - vorerst - bei ihrem Entschluss: "Es ist für mich das Gefühl, Abschied zu nehmen, sich von den - irdischen - Dingen zu lösen. Vielleicht findet sich ja jemand anderes aus den 90 Adressen, der bereit ist, den nächsten Brief zu schreiben. Denn leider geht ja das Briefeschreiben in der heutigen Zeit verloren."

Sie gibt zu, ob dieser Entscheidung kurz einige Tränen verdrückt zu haben. Um dann das Krisenmotto der Oma zu zitieren: "Es nützt ja nichts, ich muss, ich kann, ich will, da müssen wir jetzt durch!"

(mk)
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