Interview: Sandra Schlitter Nach dem Fall Mirco: Warum verzeihen?

Geldern · Im Jahr 2010 wurde der damals zehnjährige Mirco aus Grefrath entführt, missbraucht und getötet. Am Donnerstag sprechen seine Eltern, Sandra und Reinhard Schlitter, im Christus Centrum Niederrhein darüber, wie sie damit leben.

Chronologie: Der Fall Mirco
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Foto: Günter Jungmann

Sie haben sich entschieden, dem Mann, der Ihren Sohn getötet hat, zu verzeihen. Als gläubiger Mensch zu sagen: "Ich richte nicht, das soll Gott tun", das ist eine Sache. Aber verzeihen, das geht weit darüber hinaus. Also: warum verzeihen?

Sandra Schlitter Weil ich mir selbst klargemacht habe, dass ich mich einbremse in meiner eigenen Entwicklung, wenn ich nicht vergeben kann. Wenn ich dem Täter gegenüber die Vergebungsschritte nicht gemacht hätte - ich stünde heute nicht da, wo ich stehe. Ich verzettele mich dann im Hass, denke immer nur an dieses Schicksal, und das zieht mich runter. Vergebung ist etwas anderes als Versöhnung, viele Menschen setzen das gleich. Und ich weiß auch nicht, was der Täter mit meiner Vergebung macht. Aber Gott hat seinen Sohn für uns sterben lassen, um uns von unserer Schuld zu befreien. Das ist eine Gnade. Wenn man das erfahren hat, so wie wir das erfahren haben. . . mir war es wichtig, dass auch ich Schritte in diese Richtung tue.

Glauben Sie, dass das Verzeihen - auch nach so einer Tat - für Christen eine Aufgabe ist? Dass Christen das leisten müssen?

Schlitter Ich denke, nicht nur Christen. Ich denke, das spielt auch im nicht-christlichen Bereich eine große Rolle. Weil nicht zu verzeihen Menschen auffrisst.

Das heißt, Sie haben auch Menschen etwas zu sagen, die nicht religiös sind?

Schlitter Wir erleben immer wieder, dass Menschen, die nicht gläubig sind, in unsere Vorträge gehen. Das liegt daran, dass damals jeder mitgebangt hat, dass jeder sich vorgestellt hat: Was wäre, wenn das mein Kind wäre? Und jetzt sind die Leute einfach neugierig darauf, wie wir damit umgehen. Einmal war bei einem Vortrag ein Journalist, der hat nur seine Notizen gemacht. Aber später hat er uns mit Tränen in den Augen gedankt, weil er selbst Verletzungen erlebt hat, nie verzeihen konnte und gemerkt hat, wie ihn das innerlich aufzehrt. Und solche Reaktionen haben wir nicht nur einmal erlebt, das kommt immer wieder vor.

Andere religiöse Menschen, denen etwas derart Schreckliches passiert, fallen vom Glauben ab. Können Sie das nachvollziehen?

Schlitter Wenn ich nicht glauben würde. . . Ich will mir das ohne Gott nicht vorstellen. Ich selbst wusste: Egal, was passiert, da trägt Gott mich durch. Andere können das vielleicht nicht so sehen. Ich kann mir vorstellen, dass jemand verzweifelt.

In Ihrem Buch gibt es ein Kapitel "Die Medien als Helfer". Sie hatten Fernsehauftritte, Sie halten Vorträge, jetzt kommen Sie ins Christus Centrum in Geldern. Was bedeutet Ihnen diese Öffentlichkeit?

Schlitter Wir möchten den Menschen eine andere Sicht zeigen. Es muss nicht so kommen, wie es meistens der Fall ist - dass die Familie kaputt geht. Bei Vergebung geht es auch um Vergebung, dem Partner gegenüber. Wir sind uns auch nicht immer einig gewesen, mein Mann und ich. Wichtig ist die Sichtweise auf das Gegenüber: Wenn ich mir bewusst mache, wie du die Sache siehst, dann kann ich dir keinen Vorwurf machen. Und wenn ich es doch könnte: Ist es das wert? Wir bekommen dazu viele positive Rückmeldungen. Und das macht uns Mut. Das wollen wir weitergeben. Und ein Stück weit den Menschen auch Jesus näherbringen.

Wie beschreiben Sie heute Ihr Lebensgefühl, mit Blick auf die Tat?

Schlitter Wir leben wieder Alltag, fast wie vorher auch. In der ersten Zeit haben wir uns ertappt, dass wir schneller dabei waren, Wünsche unserer Kinder erfüllen zu wollen. Vielleicht auch aus dem Gefühl: Wir wissen nicht, wie lange wir sie noch haben. Und, sicher - jetzt kommt Weihnachten, da kommen Gedanken: Wie wäre Mirco jetzt? Was würde er sich wünschen? Aber ich muss mich da nicht reinspinnen. Wir tauschen uns zu Hause aus, wir reden normal über Mirco. Wir haben gelernt, das Schicksal anzunehmen. Ich denke, wir haben ein Stück weit Heilung erlebt. Wir können nach vorn sehen auf das, was Gott auch Gutes mit uns vorhat.

Sie beschreiben es als "bewusste Entscheidung", nicht in Grübeln und Verzweiflung zu versinken. Kann man das entscheiden? Andere Menschen versinken einfach.

Schlitter Es ist eine bewusste Entscheidung, die ich selber treffen muss. Die Gedanken kommen. Aber ich kann sagen: Nein. Das bringt mich nicht weiter. Schmerz kommt und geht, aber man muss ihn nicht hervorrufen, indem man sich darin einigelt. Den Schritt muss ich selbst machen. Viele sagen, das geht nicht. . . Wir haben wegen unserer Art, zu leben und damit umzugehen, auch Vorwürfe erlebt. Aber uns war es wichtig, so zu sein, wie wir sind, nicht, wie es andere vielleicht erwarten.

Beim Vortrag in Geldern - was dürfen die Menschen Sie fragen? Was möchten Sie lieber nicht gefragt werden?

Schlitter Wir sind total offen. Die Leute können alles fragen, und wir entscheiden dann, ob wir es beantworten können oder nicht. Wenn nicht, dann sagen wir: Da müssen wir passen.

SINA ZEHRFELD FASSTE DAS GESPRÄCH ZUSAMMEN.

(RP)
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