Geldern "Wie, du kannst nicht lesen?"

Geldern · Wer als Erwachsener über sehr geringe Lese- und Schreibkenntnisse verfügt, gilt als funktionaler Analphabet. In Geldern könnten 2722 Menschen davon betroffen sein. Viele versuchen, ihre Schwäche zu verheimlichen.

 Mit diesem Foto wirbt der Bundesverband Alphabetisierung dafür, Lesen und Schreiben zu lernen.

Mit diesem Foto wirbt der Bundesverband Alphabetisierung dafür, Lesen und Schreiben zu lernen.

Foto: archiv

Die Gelderner, die ab Dienstag bei Senta Falkenhagen im VHS-Kursus sitzen, waren alle einmal ABC-Schützen. Doch schon das Ausfüllen eines Formulars beim Arzt stellt sie vor große Probleme. Denn: Sie können nicht sinnzusammenhängend lesen, gelten als "funktionale Analphabeten". Ihnen gilt der heutige Weltalphabetisierungstag der Unesco.

Von dieser Schwäche sind nach Schätzungen des Bundesverbandes für Alphabetisierung rund 7,5 Millionen Menschen in Deutschland betroffen. 2011 lieferte eine Studie der Universität Hamburg ein — erschreckendes — Ergebnis: Jeder siebte Deutsche zwischen 18 und 64 Jahren kann nicht richtig lesen. Rechnet man diese Größe auf die Gelderner Einwohnerzahl um, ergibt sich ein Anteil von mindestens 2722 Erwachsenen, die Probleme beim Lesen und Schreiben haben. Konkrete lokale Zahlen liegen allerdings nicht vor.

Doch Günter Marciniak, Leiter der VHS in Geldern, weiß: "Viel zu wenig Betroffene nutzen unser Angebot." Seit 1982 bieten er und seine Kollegen Grundbildungskurse (Lesen und Schreiben) für Erwachsene an. "Damit wollen wir Menschen helfen, die sich über viele Jahre aus Scham vor ihrem Problem verstecken mussten" betont er. Kursleiterin Senta Falkenhagen kennt die Sorgen, die funktionale Analphabeten täglich begleiten: "Sie haben Angst, bloßgestellt zu werden oder ihren Arbeitsplatz zu verlieren."

Die 74-Jährige weiß: Die meisten Betroffenen umgehen die Fallstricke, die ihnen ihre Schwäche knüpft, so gut es eben geht. Wie der Hilfsarbeiter, von dem sie erzählt: "Sobald er seinem Chef oder seinen Kollegen etwas vorlesen musste, hat er Ausflüchte gesucht. Er habe seine Brille vergessen oder seine Augen täten ihm weh."

Die ehemalige Lehrerin kennt die Strategien des "Täuschens und Tarnens" und die vielen "Eingeweihten", die dabei helfen. "Etwas nicht zu können, was praktisch jeder andere zu beherrschen scheint, nagt stark am Selbstbewusstsein", stellt die 74-Jährige fest. Schließlich werde im Alltag allgemein vorausgesetzt, dass ein Durchschnittsbürger lesen und schreiben kann.

Dass laut der Hamburger Studie vier Prozent der deutschen Bevölkerung überhaupt nicht lesen und schreiben können, wundert Falkenhagen. "So ein Fall ist mir in den rund 20 Jahren als Kursleiterin nie begegnet." Hin und wieder kämen jedoch Eltern zu ihr, deren Kind jetzt in die Schule geht. "Sie wollen ihrem Sprössling beim Lesen lernen helfen können", berichtet die Seniorin. Anlässlich des Weltalphabetisierungstages wünscht sie sich, dass zukünftig mehr Betroffene den Weg in die VHS finden: "Denn vielen tut es gut, wenn sie sich ihrem Problem stellen." Schließlich seien Analphabeten keineswegs dümmer als andere Menschen.

(RP/ac)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort