Gruiten Christliche Karawanserei an Strata Coloniensis

Gruiten · Die Nikolauskirche in Gruiten war einst eine Raststation. Die Maulesel wurden abgeschirrt und die Waren eingelagert - glaubt Jürgen Brand, emeritierter Rechtsprofessor mit kriminalistischem Spürsinn.

 Das Glasfenster der Kirche hat der Mettmanner Künstler Felix Droese entworfen und in Zusammenarbeit mit der Firma Glaskunst Hein Derix in Kevelaer gefertigt.

Das Glasfenster der Kirche hat der Mettmanner Künstler Felix Droese entworfen und in Zusammenarbeit mit der Firma Glaskunst Hein Derix in Kevelaer gefertigt.

Foto: Manos Meisen

Da wollte doch tatsächlich ein verarmter Vater seine Töchter ins Bordell schicken. Und all das nur, weil das Geld nicht reichte, um sie verheiraten zu können. Drei Nächte später war das Problem gelöst: Nikolaus hatte drei Goldklumpen durchs Fenster geworfen, um die Familie vor der Schande zu bewahren. Das Kornwunder, das Wannenwunder, das Quellenwunder am Grab: Wunder gab es offenbar reichlich im Leben des guten Nikolaus von Myra, der seither als Heiliger zu Ruhm und Ehre gekommen ist.

Ein weiteres Wunder, das auf seine Kappe geht, scheint eine Nacht- und Nebelaktion in Gruiten gewesen zu sein. Denn dort entstand vor mittlerweile 940 Jahren die Nikolauskirche, von der heute nur noch der Turm steht. Gebaut wurde sie nicht so, wie damals in der Gegend üblich: Langsam, mit immer neuen Anbauten genau dann, wenn jemand Geld dafür locker gemacht hatte. Stattdessen ging alles ungewöhnlich flott, worüber man sich im Rückblick nur wundern kann.

Nun kann man freilich nicht behaupten, dass der gute Nikolaus etliche Jahrhunderte nach seinem Dahinscheiden noch Hand angelegt hätte in der Provinz oder gar die damaligen Bauherren zur Eile gedrängt haben könnte. Allerdings sei es mit dem Bau für damalige Verhältnisse eben ungewöhnlich schnell gegangen. Das sagt einer, der es wissen muss: Jürgen Brand, emeritierter Rechtsprofessor mit kriminalistischem Spürsinn. Als im vergangenen Jahr die geplante Sanierung des Gruitener Nikolausturms anstand, war er es, der als Mitstreiter im Förderverein St. Nikolaus darauf drängte, das Landesamt für Denkmalpflege einzuschalten.

Und tatsächlich: Es wurden Skelette gefunden, die offenbar vor dem Kirchenbau in die Erde gebracht wurden. Ein Raunen ging durchs Örtchen. Denn bislang war man offenbar der Ansicht, dass nicht das Dorf, sondern die Kirche zuerst da gewesen sei. Dass nun Knochen unter dem Kirchengemäuer zum Vorschein kamen, stellte die bisherige Geschichtsschreibung auf den Kopf. Es wurden Stimmen laut, die schnellstens die Geschichte Gruitens umschreiben lassen wollten. Glaubt man hingegen Jürgen Brand, so ist das nicht unbedingt nötig. Denn aus seiner Sicht steht der Nikolausturm nicht in Gruiten, sondern bei Gruiten. Ein kleines aber feines Detail, das eines deutlich werden lässt: Den Gruitenern ist das Gotteshaus am Ortseingang lange Zeit fremd geblieben. "Die Nikolauskirche wurde von Fernkaufleuten gebaut, die Geld hatten wie Heu", ist sich Brand sicher. Es sei sogar so gewesen, dass die Gruitener die Kirche auch dann nicht hätten betreten können, wenn sie es gewollt hätten: "Es gab bis ins 19. Jahrhundert noch nicht mal einen Zugang vom Dorf."

Was sich auf der Anhöhe des jetzigen Friedhofs damals genau zugetragen haben könnte, lässt sich Jahrhunderte später ohnehin nur mutmaßen. Eines jedoch scheint klar zu sein: Man kam nicht nur zum Beten ins Gemäuer. "Das war eine christliche Karawanserei an der Strata Coloniensis", glaubt Jürgen Brand. Heute würde man wohl sagen: St. Nikolaus war eine Autobahnraststätte - mit göttlichem Beistand, den man damals wohl auch gut gebrauchen konnte. Schließlich trieben entlang der heutigen Kölnischen Landstraße etliche Räuberbanden ihr Unwesen. Da konnte es nicht schaden, sich unter den Schutz des heiligen Nikolaus von Myra zu begeben.

Bei Jürgen Brand jedenfalls war der kriminalistische Spürsinn in Anbetracht der von Geheimnissen umwobenen und spärlichen Überlieferungen schnell geweckt. Dass es kaum Informationen zum Kirchturm gab, dass seine Geschichte quasi im Dunkeln lag:: All das konnte und wollte er so nicht stehen lassen. Als ehemaliger Staatsanwalt weiß er, was in einem solchen Falle zu tun ist. Man sucht nach Fakten, bemüht alte Aufzeichnungen, forscht nach Parallelen zu anderen historischen Bauwerken. Dabei kennt er durchaus die humorvolle Redewendung unter Historikern: Geschichte ist die Lüge, auf die wir uns geeinigt haben. Und er ist sich sicher: Seine Nachforschungen haben das Wissen um den Nikolausturm näher an die Wahrheit herangerückt.

Dabei scheut Brand auch nicht die Debatte, die er damit unter Lokalhistorikern losgetreten hat. Denn einige Bauhistoriker würden den Kirchenbau locker 100 Jahre später verorten. Brand hält mit Fakten dagegen und man ist durchaus geneigt, sich seinen Erkenntnissen anzuschließen.

Ach ja, inmitten der kriminalistischen Spurensuche soll hier noch kurz erwähnt werden, wer nun eigentlich warum in der damaligen Nikolauskirche haltgemacht hat. "Es war eine Raststation. Die Maulesel wurden abgeschirrt und die Waren eingelagert", glaubt Jürgen Brand. Unter "dem Auge des Höchsten" seien Verträge geschlossen worden, die später von niemandem infrage gestellt werden konnten.

Wunder, die auf das Konto des heiligen Nikolaus gehen würden, sind bislang hingegen nicht überliefert. Wundern darf man sich indessen schon - über so viel historische Geheimniskrämerei. Nun hat Jürgen Brand als Herausgeber eines lesenswerten Buches immerhin dazu beigetragen, den Schleier um den Nikolausturm auf dem katholischen Friedhof zu lüften.

(RP)
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