Kreis Mettmann "Der Staat schreibt viele Langzeitarbeitslose ab" Selbstverteidigung beginnt im Kopf

Kreis Mettmann · Caritas kritisiert Rückgang öffentlich geförderter Beschäftigung. Trauriger Spitzenreiter ist der Kreis Mettmann.

 Der Schritt zurück ins Arbeitsleben gelang Iris A. über eine öffentlich geförderte Beschäftigung.

Der Schritt zurück ins Arbeitsleben gelang Iris A. über eine öffentlich geförderte Beschäftigung.

Foto: rm-

Während Iris A. die Preise auf den Haushaltswaren listet, tauscht sie mit einer Kollegin Erfahrungen in den Arbeitsabläufen aus. Inzwischen ist sie schnell, weiß genau, welche Preise sie nehmen darf, damit es für die Kunden des Secondhand-Ladens bezahlbar ist. Ihre Berufserfahrung rührt aus ihrer bereits zweijährigen Beschäftigung beim Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) Arbeit + Integration - und aus eigenem Erleben. 15 Jahre blieb die gelernte Bäckereifachverkäuferin mit ihren Kindern zu Hause. "Du brauchst nicht arbeiten gehen", hatte damals ihr Mann gesagt. Dann die Scheidung.

 Für Tatjana D. ist es ein wundervolles Gefühl, wieder Teil der Gesellschaft zu sein, selbstbestimmt Geld zu verdienen.

Für Tatjana D. ist es ein wundervolles Gefühl, wieder Teil der Gesellschaft zu sein, selbstbestimmt Geld zu verdienen.

Foto: Matzerath Ralph

Der Schritt zurück ins Arbeitsleben gelang der 51-jährigen Langzeitarbeitslosen als Teilnehmerin einer öffentlich geförderten Beschäftigung. Eine Möglichkeit, ohne die Iris A. nicht aus der Arbeitslosigkeit heraus gekommen wäre, wie sie selbst sagt.

 Karin Arenz (r.) übt eine Abwehrtechnik mit Trainer Odhofer.

Karin Arenz (r.) übt eine Abwehrtechnik mit Trainer Odhofer.

Foto: MATZERATH

"Menschen wie Iris A. brauchen Beschäftigungsmaßnahmen. Ein Einstieg auf den ersten Arbeitsmarkt funktioniert bei den meisten Langzeitarbeitslosen einfach nicht", erklärt Dorothea Domasik, Leiterin der Beschäftigungsbetriebe des SkF in Langenfeld.

Das Fatale beschreibt eine Pressemitteilung der Caritas im Erzbistum Köln. Darin kritisiert Diözesan-Caritasdirektor Dr. Frank Joh. Hensel den Rückgang öffentlich geförderter Beschäftigung: "Schöngerechnet und vergessen: Der Staat schreibt viele Langzeitarbeitslose ab. Dabei gäbe ihnen öffentlich geförderte Beschäftigung eine faire Chance auf berufliche und soziale Teilhabe." Dabei bezieht er sich auf den aktuellen Arbeitslosenreport der freien Wohlfahrtspflege. Laut diesem ist die Zahl der Teilnehmer an Beschäftigungsmaßnahmen seit 2009 um 57 Prozent gesunken.

Ein trauriger Spitzenreiter ist der Kreis Mettmann mit minus 64,9 Prozent. "Verbunden mit Coaching und beruflicher Qualifizierung ist öffentlich geförderte Beschäftigung ein wirksames Förderinstrument für Langzeitarbeitslose", so Hensel weiter. Die Caritas verweist bei ihrer Forderung auf die seit Jahren konstant hohe Zahl der sogenannten Langzeitleistungsbezieher. Mehr als 770.000 Menschen in NRW mussten in den vergangenen 24 Monaten mindestens 21 Monate lang von Harz IV leben. Doch nur gut 294.000 gelten offiziell als langzeitarbeitslos. Grund: Sobald Menschen ihre Arbeitslosigkeit wegen Krankheit oder durch Teilnahme an einer Maßnahme kurz unterbrechen, werden sie in der Statistik nicht mehr als Langzeitarbeitslose gezählt.

Franz Heuel, Geschäftsführer des Jobcenters ME-aktiv, sieht die Verantwortung bei der Politik: "Es gibt in dem Sinne gar keine öffentlich geförderten Beschäftigungen, weil die Politik hierzu noch nicht die Rahmenbedingungen geschaffen hat. Wir haben aber Arbeitsgelegenheiten für unsere Kunden, die wir in Zusammenarbeit mit verschiedenen Trägern anbieten." Wo auch immer die Verantwortung liegt, Dorothea Domasik betont: "Wir benötigen finanzielle Mittel, um diese Menschen einstellen zu können. Maßnahmen müssen auch längerfristig angelegt sein."

Auch Tatjana D. würde ohne öffentlich geförderte Beschäftigung noch immer in der Arbeitslosigkeit feststecken. Die alleinerziehende Mutter baute ihre Sprachkenntnisse im Beschäftigungsbetrieb des SkF aus, knüpfte seit langer Zeit wieder soziale Kontakte und hat inzwischen eine Aufgabe mit Verantwortung übernommen: "Es ist so ein wundervolles Gefühl, wieder Teil der Gesellschaft zu sein, selbstbestimmt Geld zu verdienen und auch auszugeben."

Reiner Odhofer ist ein Kerl wie ein Baum. "Eins vorweg", sagt der Selbstverteidigungstrainer zu Beginn der Veranstaltung seinen rund 25 Teilnehmerinnen: "Glauben sie bitte bloß nicht, sie seien unbesiegbar, wenn sie hier raus gehen. Männern meiner Statur werden sie nach wie vor körperlich unterlegen sein. Und doch gibt es ein paar Tricks und Tipps, die ich ihnen zeigen möchte, denn Selbstverteidigung beginnt im Kopf." Eine Dame mit grauen Locken nickt. Körperhaltung und Selbstbewusstsein spielen eine große Rolle, davon hat sie schon gehört. "Es gibt Statistiken über die verschiedenen Tätergruppen", erläutert Trainer Odhofer, "und dabei hat man herausgefunden, dass fast 80 Prozent zu der angepassten, aggressionsgehemmten Gruppe gehören. Diese Täter suchen sich generell Opfer, die unsicher wirken, denn sie haben große Angst und flüchten bei der kleinesten Gegenwehr." Eine gute Nachricht für die besorgten Teilnehmerinnen, man liest und hört ja viel über zunehmende Gewaltbereitschaft. "Laufen sie gerade, schauen sie nicht nach unten, halten sie den Kopf aufrecht, damit bewirken sie schon mehr als sie denken", appelliert Reiner Odhofer eindringlich.

Als Jiu Jitsu-Trainer gibt er regelmäßig Kurse in Selbstverteidigung. Training mit der älteren Zielgruppe ist aber auch für ihn eine neue Erfahrung. "Im Grunde unterscheiden sich die Kurse nicht", erklärt er, "bis auf die Tatsache, dass wir hier mit wesentlich weniger Fall-, Wurf- oder Abrolltechniken arbeiten."

In zwei Gruppen aufgeteilt lernen die Monheimerinnen erste Gegenwehrpraktiken. Bei jeder einzelnen kontrollieren der Trainer und sein Helfer das richtige Vorgehen. Doch ungehemmtes Zuschlagen fällt den meisten Frauen schwer. "Hey", ruft der Trainer, "Täter wollen Opfer, keine Gegner, als los, wehrt euch gefälligst richtig". Und dabei sei nahezu alles erlaubt. "Gürtelschnallen, Schlagringe, Kugelschreiber, Schraubenzieher, alles bitte einsetzen, was man hat. Haben sie keine Hemmungen, rammen sie ihm die Kugelschreiberspitze in den Kehlkopf oder in den Augapfel, wie auch immer." Die Frauen wirken irritiert. "So viel Gewalt und Brutalität, muss das sein?", fragt eine zarte Frau. Die Antwort des Trainers mündet in eine Gegenfrage: "Sie oder er, was ist ihnen lieber?" Karin Arenz, Leiterin der Bewegungsstätte, verfolgt das Geschehen mit großem Interesse. "Dieses Angebot scheint überfällig gewesen zu sein. Wir haben weit über sechzig Anmeldungen, daher wird es im kommenden Jahr zwei weitere Termine geben."

Einen weiteren Kursus gibt's am 5. März. Anmeldung: 02173 939203.

(RP)
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