Hilden Verspätete Abnabelung

Düsseldorf · Die meisten der 21 jungen Menschen mit Behinderungen sind in das Wohnhaus der Graf-Recke-Stiftung gezogen. Für die Eltern ist der Ablösungsprozess fast schwieriger; sie müssen neue Rollenbilder finden.

"Schön" sei es hier, endlich habe er Ruhe vor den Eltern, sagt Alexander Fleckenstein unverblümt. Dass es ihn mit 21 Jahren zur Unabhängigkeit drängt, ist normal. Das beste Stück in seinem Zimmer sei der Fernseher, sagt er. "Ich muss nicht mehr fragen", erklärt er knapp. Seine Lieblingsfarbe Blau zieht sich durch die gesamte Einrichtung, da hatte er bei der Standardmöblierung der Zimmer die freie Wahl. "Vor zehn Tagen", bemerkt er präzise, zog er in das neue Wohnhaus der Graf-Recke-Stiftung an der Hochdahler Straße.

Ablösungsprobleme

Der geistig behinderte junge Mann wird, ebenso wie die neun anderen Bewohner, im stationären Wohnen rund um die Uhr betreut. "Für meinen Sohn ist es schon normal, in seine Wohnung zu gehen, aber ich als Mutter habe mehr Probleme — nach 21 Jahren intensiver Betreuung", räumt Elke Fleckenstein vom Vorstand des Vereins Gemeinsam Leben lernen ein.

Der Umzugsmonat Mai, in dem nun 21 junge Menschen mit unterschiedlichsten Behinderungen ein Stück Selbstständigkeit erlangen sollen, wirft alte Rollenbilder durcheinander. "Viele der Eltern, die bisher völlig von der Sorge für das behinderte Kind absorbiert waren, müssen sich neu definieren, lernen, mit ihrer neuen Freiheit umzugehen", sagt Sabine Brosch, die den Bereich Heilpädagogik der Stiftung leitet und das Haus führt. Auch die Bewohner müssen sich trotz einer behutsamen Annäherung des Personals daran gewöhnen, dass die sie pflegenden Hände fremden Menschen gehören.

"Das ist schon eine Phase emotionaler Spannungen", sagt Dagmar Hüppelshäuser, die seit 2002 für die Realisierung dieses einzigartigen Projektes kämpft, einzigartig, weil hier vollstationäres und Betreutes Wohnen unter einem Dach vereint ist. "Aber die Kinder waren ja von Anfang an einbezogen. Und die meisten kennen sich seit dem Kindergarten", erklärt sie. Aber in dieser Ablösungsphase klappe eben doch noch nicht alles.

Als nächstes möchte sich der Verein in der Freizeitgestaltung einbringen, Fahrten und Freizeiten organisieren. Und gemeinsam mit dem Betreiber einen Rahmen für das Begegnungscafé entwickeln. Das Interieur, beerenfarbene Sitzpolster und moosgrüne Lampenschirme geben dem lichtdurchfluteten Raum ein frisches Ambiente. Die Sonne wirft die margeritenblütenförmigen Schatten der Fensteraufkleber auf den Boden. Ansonsten künden die kahlen Wände und die zum Teil improvisierte Möblierung davon, dass das Haus erst noch richtig in Besitz genommen werden will.

Erste gemietete Wohnung

Neben Umzugskartons aufzuwachen findet auch Jaqueline Scheunemann (21) ungemütlich. Dafür entschädigt sie der Anblick ihrer blauen Wand und des blauen Sofas. Sie hat in einer Gruppe im Betreuten Wohnen ihre erste Wohnung (im Rahmen des sozialen Wohnungsbaus) mit Mietvertrag bezogen. Das Einkaufen der Möbel, das viele Nachrechnen, welches der begehrten Stücke nun ins Budget passt und was nicht, habe sie aber sehr gestresst. "Sie wird irgendwann eine Wohnung auf dem freien Markt haben können", ist Sabine Brosch zuversichtlich.

(RP)
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