Hückelhoven Waren Gräueltaten im Dorf der Stiftungsgrund?

Straßendörfer bieten ihren Bewohnern im Gegensatz zu Rund- oder Haufendörfern zwei Schicksale: Die einen leben nah an den bedeutenden Zentraleinrichtungen wie Rathaus, Schule, Geschäft, Kirche und Gaststätten, die anderen elend weit davon entfernt. Brachelen ist mit mehr als vier Kilometern Länge ein (großes) Dorf (früher) an nur einer Straße. Die Gereons-Pfarrkirche liegt weit im Oberdorf - die "Unterdörfler" bauten sich eine eigene Kapelle, deren heutige Version von 1864 stammt.

1709 war sie noch nicht geweiht, wie die Chronik des Bürgermeisteramts Brachelen von 1863 rückblickend vermeldet, "... jedoch wurde in diesem Jahre die Erlaubnis erteilt, eine Messe in selbiger feiern zu dürfen". Die heutige Annakapelle hatte also einen Vorgängerbau, der möglicherweise bereits 1704 entstanden ist. Darauf weist die Gravierung eines Kelchs aus dem Kapellen-Liturgie-Fundus hin, den in jenem Jahr Heinrich van Werdt gestiftet hat, der als Adliger vermutlich im Dienst des Brachelener Hauses Horrig stand.

Ob allein die große Entfernung zur Gereonskirche im Oberdorf die Motivation der Unterdörfler zum Bau der Kapelle war, ist nicht überliefert. Es spricht allerdings einiges dafür, dass das kleine Gotteshaus einen zu der Zeit häufigen weiteren Stiftungsgrund hatte, nämlich den des Dankes für die Abwendung oder die Beendigung einer Gefahrenlage für das Dorf. Immerhin war das 17. Jahrhundert gerade zu Ende gegangen, in dem allein der 30-jährige Krieg millionenfachen Tod und riesige Verwüstungen in Mitteleuropa gebracht hatte.

Am 20. August 1678, der 30-Jährige lag schon drei Jahrzehnte zurück, suchten Truppen des französischen ("Sonnen"-)Königs Ludwig XIV. Brachelen heim, die zunächst plünderten und dann das Dorf in Brand steckten, vermutlich nach weiteren Gräueln an der Bevölkerung. Der damalige Pfarrer notierte: "...132 häusser und 88 scheuern ohn ander gebäuw" brannten nieder. Bedenkt man, dass es in der nicht sehr wohlhabenden Bevölkerung lange brauchte, bis der Gedanke reifte und dann die Gelder für eine Kapelle zusammen waren, macht der Bau "erst" im Jahr 1704 als Gedenken an die Gräueltaten im Jahrhundert zuvor durchaus Entstehungs-Sinn.

Insgesamt hat das Gebäude mit dem markanten Dachreiter auch eine Reihe politischer Umwälzungen erlebt. Zunächst das Heilige Römische Reich mit dem Herzog von Jülich als Landesherrn, dann die französisch-napoleonische Zeit (1794 bis 1815), das Königreich Preußen, das deutsche Kaiserreich bis 1918, die Weimarer Republik bis 1933, die Nazizeit bis 1945, seitdem die Bundesrepublik Deutschland.

Durch stetiges Bevölkerungswachstum war schon vor 1864 klar, dass das zu Andachten zu besonderen Gelegenheiten wie Todesgedenken, Fürbitten gegen Gewalt und Naturkatastrophen genutzte Kapellchen zu klein war. Mit dem II. Weltkrieg und seinen Bombenangriffen wäre beinahe das Ende gekommen - allein, die Brachelener Unterdörfler reparierten die erheblichen Schäden und nahmen sogar Erweiterungen vor. Heute wird in der Kapelle gern in intimer Atmosphäre kirchlich geheiratet.

(RP)
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