Hünxe-Bruckhausen Der große Treck nach Westen

Hünxe-Bruckhausen · Michael Lücking gehört zu einer Gruppe von Hünxern, die sich vorgenommen hat, die Ortsgeschichte von Bruckhausen wach zu halten und dazu Zeitzeugen zu befragen. Kindheitserinnerungen von Ilse Neugebauer.

 Ilse und Reinhold Faulhaber erinnern sich an ihre Flucht aus Niederschlesien.

Ilse und Reinhold Faulhaber erinnern sich an ihre Flucht aus Niederschlesien.

Foto: Lücking

Ein zufriedenes Lächeln umspielt ihre Lippen. Freude und Dankbarkeit darüber, dass sie erst kürzlich das seltene Fest der Diamantenen Hochzeit haben feiern dürfen. Im Schatten ihres Eigenheims sitzend, lassen Reinhold und Ilse Faulhaber, geborene Neugebauer, die Ereignisse ihrer Kindheit in der Kriegszeit in Niederschlesien Revue passieren. Erlebnisse ihrer Flucht nach Westen kommen in Erinnerung, die sie letztlich in Voerde am Niederrhein haben heimisch werden lassen.

Geboren wurde Ilse Neugebauer im September 1937 in Freystadt, Bezirk Breslau, heute Kozuchow (Polen). Nachdem die russische Armee und polnische Streitkräfte die Stadt eingenommen hatten, entschloss sich die Familie im Sommer 1945 nach Westen zu ziehen. Zu sechst - Großeltern, Mutter Frieda, Ilse, ihr Bruder Horst und Tante Grete - machten sie sich zu Fuß auf den Weg nach Berlin. Vater Alfred zog als Soldat, im Rahmen des letzten Aufgebotes "Volkssturm", mit seiner Einheit westwärts und gilt seither als vermisst. In Berlin fand die Familie Unterschlupf bei Bekannten in einer Schrebergartensiedlung. Doch blieb man dort nicht lange.

Geschichte wiederholt sich: Wie auch heutzutage Schutz Suchende unsäglich viele Kilometer zu Fuß zurücklegen, war der Fluchtweg für die Familie eine einzige Strapaze. Im Frühjahr 1946 erreichte sie mit einem der unregelmäßig verkehrenden Personenzüge Dinslaken.

Eine im Forsthaus Hiesfeld tätige Tante, die eine kleine Wohnung im "Witte Hus" in Bruckhausen bezogen hatte, vermittelte der Familie eine Unterkunft in einer Jagdhütte auf dem Gelände der Siedlung Pillekamp am Bergschlagweg in Bruckhausen, die einem Jäger aus Aachen gehörte. Die Hütte war mit dem Nötigsten ausgestattet: Tisch, Stühle, drei Doppelstockbetten und ein Plumpsklo. Ein Stück Garten, ein Schaf und sechs Hühner sicherten ihnen das Überleben. "Wer viel hat, gibt oft wenig, wer wenig hat, teilt dies noch." Ein Mittagessen erhielten die beiden Kinder regelmäßig von den dort wohnenden Familien Pillekamp.

Mit dem Schulbesuch beginnt der Ernst des Lebens. So hört man es oft. Ilse und ihr Bruder Horst, beide in schulpflichtigem Alter, wurden der "Schule I" am Bruckhauser Mühlenbach (Mölebeek) zugewiesen, die, wie derzeit geplant, in absehbarer Zeit einem größeren Bauvorhaben weichen wird. Lehrer Schwitte unterrichtete in einem Klassenraum bis zu 75 Kinder aller Jahrgänge. Der Schulweg, ein Fußweg über 3,5 Kilometer, für den die Kinder eineinhalb Stunden brauchten. Der Weg war schlammig und führte durch die Senke "Rollbeek". Im Rahmen von Hand- und Spanndiensten mussten die Anwohner des Bergschlagwegs den Weg begehbar halten. Ein Anwohner legte wiederholt Äste in das Wasser der Senke, damit man in den seinerzeit gebräuchlichen Klotschen (Holzschuhen) halbwegs trockenen Fußes hinüber kam. Solch ein Schulweg ist heute unvorstellbar, gilt doch die Devise "Kurze Beine - kurze Wege!" Ab einer bestimmten Entfernung zur Schule leisten Schulbusse den Transfer.

An einem Tag der Woche gab es auch Unterricht am Nachmittag. Dies hätte bedeutet, dass Ilse den Fußweg viermal hätte gehen müssen, was schier unmöglich war. Christel Berger-Lohr, vom gleichnamigen Hof am Fuß des Bergschlagwegs, holte das Kind kurzer Hand zu sich und servierte ihm ein Mittagessen und einen Nachtisch mit süßer Vanillesoße.

Der Lehrplan in der Schule sah für Jungen und Mädchen teils unterschiedliche Fächer vor. Während Jungen im Fach Raumlehre unterrichtet wurden, sollten Mädchen bei der Handarbeitslehrerin Frau Krieg "Breien", also Stricken, lernen. Doch woher ein Knäuel Wolle nehmen? Tante Anna Horstmann schenkte Ilse ein Knäuel handgesponnener grau-weißer Schafwolle. Das 4. Schuljahr besuchte Ilse noch in der "Schule II", bei Lehrer Pütz, am Sternweg.

Auf Dauer war es in der Jagdhütte am Bergschlagweg für die Familie zu eng. Amtsbürgermeister Gerpheide besorgte für Neugebauers eine Bleibe auf dem Horstmannshof am Voerder Weg in Bruckhausen. Die Bauersleute erwiesen sich als hilfsbereit und sorgten so für das Notwendigste. Da Vater Alfred als vermisst galt, erhielt die Familie eine kleine Halbwaisenrente. Die Geschwister halfen beim Kartoffellesen und Obstsammeln, während die Mutter durch Näharbeiten etwas Geld verdiente. Gesammeltes Holz sorgte bei Kälte im Bollerofen für die nötige Wärme.

Dreimal umgezogen ist wie einmal abgebrannt, sagt der Volksmund. So ging es dann von Bruckhausen aus in das Haus der Familie Lehmkuhl in Voerde am Waldheideweg, wo eine Zweizimmerwohnung bereitstand. Hier war der Schulweg nicht so lang. Das 5. bis 7. Schuljahr absolvierte Ilse an der Holthausener Volksschule.

Während Mutter Frieda über Voerde-Friedrichsfeld nach Voerde-Spellen verzog, nahm Bruder Horst letztlich Wohnung in Konstanz am Bodensee.

Mehrfach stellten Ilse und ihr Ehemann Reinhold einen Nachforschungsantrag beim Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes, doch ihr Vater blieb verschollen.

Im Bruckhauser Wald, am Keilerweg, befindet sich das Grab eines Soldaten namens Bruno Brusten, der im März 1945 hier sein Leben ließ. Immer, wenn ihnen danach ist, sitzen Ilse und Reinhard auf der Bank neben dem Grab und gedenken ihres verschollenen Vaters.

(RP)
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