Kaarst Selbstständigkeit war in der DDR unerwünscht

Kaarst · Politikerin Marianne Birthler (68) las in der Rathausgalerie aus ihrer Autobiographie.

 "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben", heißt die Lebenserinnerung, aus der Marianne Birthler vor zahlreichen Zuhörern in Kaarst vortrug.

"Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben", heißt die Lebenserinnerung, aus der Marianne Birthler vor zahlreichen Zuhörern in Kaarst vortrug.

Foto: G. Salzburg

Sie lässt keinen Zweifel offen: Für Marianne Birthler, Nachfolgerin von Joachim Gauck als Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagenbehörde, war die DDR ein Unrechtsstaat. Ebenso eindeutig ihre Meinung über Gregor Gysi: "Der Bundestag ist zu dem Urteil gelangt, dass er für die Stasi gearbeitet hat - dem habe ich nichts hinzuzufügen." Das machte sie jetzt in der Rathausgalerie im Rahmen der Reihe "Dialog Zukunft" deutlich.

Marianne Birthler, 1948 in Berlin geboren, las aus ihrer Autobiografie "Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben", in der sie zahlreiche Alltagserlebnisse schildert und die DDR entzaubert. Da sind zum Beispiel die Kinderkrippen, die im Westen noch heute als große DDR-Errungenschaft gelten. Birthler erinnerte sich an müde und weinende Kinder in den frühen S-Bahn-Zügen. Es habe sogar die Möglichkeit gegeben, die Kinder am Anfang der Woche abzugeben und sie erst am Samstag abzuholen. "Ich wage es, das skeptisch zu sehen", sagte die 68-Jährige. Und sie zeigte sich auch selbstkritisch: "Wer einen Ausreiseantrag stellte, dem wurden Schwäche und Egoismus unterstellt - das war sehr selbstgerecht. Hinter dieser Diskriminierung verbargen wir unseren Trennungsschmerz."

Warum die Opposition ausgerechnet in Kirchen zusammenkam, obwohl in der ehemaligen DDR die Religion keine große Rolle spielte? "Private Treffen waren ein Risiko, das konnte als illegale Gruppenbildung angesehen werden. Man wich lieber in kirchliche Räume aus." Als Arbeitskreis getarnt, genossen die kritischen Geister einen gewissen Schutz. Allerdings öffneten längst nicht alle Pfarrer ihre Kirchenpforten für solche Gruppen. Marianne Birthler schilderte die aufkommende Aufbruchstimmung 1989 und die Furcht, ob es eine "chinesische Lösung" geben würde - kurz zuvor waren Studenten in Peking von Panzern überrollt worden und der Arbeiter- und Bauernstaat hatte dies als gerechtfertigt angesehen. Zwar seien die Demonstrationen und schließlich das Ende der SED-Diktatur unblutig verlaufen, hinter den Kulissen aber hätte es "zügellose Gewalt und Schikane" gegeben. Birthler erzählte von einer Mutter, die ihren eigenen Sohn bespitzelt hatte, und von ihrer Mutter, die einen kleinen Spirituosenladen führte und deshalb auf bestimmte Privilegien verzichten musste: "Selbstständig zu sein, galt als etwas Negatives." Immerhin: Jungen Eltern wurde mit 5000 Ost-Mark unter die Arme gegriffen, dieser Kredit konnte durch die Geburt von drei Kindern getilgt werden. "Die DDR wurde nur mit Gewalt aufrecht erhalten", erklärte Birthler. Das sei von Anfang an so gewesen, nicht erst, als der Zusammenbruch absehbar war. Ob die Oppositionsbewegung, der sie ja angehörte, nicht von einem eigenen Staat geträumt habe, wurde sie gefragt. Marianne Birthler, die Ministerin, Bundestagsabgeordnete und Parteivorsitzende war, hält die Entscheidung so, wie sie getroffen wurde, für alternativlos.

(NGZ)
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