Kamp-Lintfort Wie ein Flüchtling neue Eltern fand

Kamp-Lintfort · Die Kamp-Lintforter Eheleute van Egeren haben vor einem Jahr Familienzuwachs bekommen. Ihr Pflegesohn heißt Mohanad und kommt aus der Gegend von Aleppo. Er gelangte als unbegleiteter Minderjähriger nach Deutschland.

 Mohanad Almustafa mit dem Ehepaar van Egeren. Der 17-Jährige hat nach seiner Flucht aus Syrien hier eine zweite Heimat gefunden.

Mohanad Almustafa mit dem Ehepaar van Egeren. Der 17-Jährige hat nach seiner Flucht aus Syrien hier eine zweite Heimat gefunden.

Foto: Klaus Dieker

Ob Menschen sich mögen, entscheidet sich meistens in den ersten Sekunden einer Begegnung Bei Hunden ist das wohl nicht anders. Jedenfalls war Mischlingshündin Luna sofort hin und weg, als der junge, schlanke Mann eines Tages in der Wohnzimmertür stand. "Sie war kaum noch von ihm zu trennen", erinnert sich Sandra van Egeren an den 12. Oktober 2015. Damals trat der damals 17-jährige Flüchtling Mohanad Almustafa aus der Gegen von Aleppo in der Leben der Eheleute Sandra (44) und Dirk (52) van Egeren - und hat es bis heute nicht mehr verlassen.

"Wenn wir uns nicht auf Anhieb sympathisch gewesen wären, hätten wir das Ganze nicht gemacht", sagt Sandra van Egeren. Die Familie hatte sich schon im September 2015 beim Kamp-Lintforter Jugendamt gemeldet und mitgeteilt, dass sie bereit wäre, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling aufzunehmen. "Drei Wochen lang haben wir nichts gehört, dann kam auf einmal am Freitag der Anruf, dass am Montag jemand kommen würde." Inzwischen ist Mohanad 18 Jahre alt und spricht schon sehr gut Deutsch. Er erinnert sich noch, wie schwer der Anfang für ihn war. Die einzige Möglichkeit für beide Seiten, sich verständlich zu machen, war das Übersetzungsprogramm des Smartphones.

So dauerte es eine Weile, bis die Familie van Egeren die abenteuerliche Geschichte Mohanads erfuhr. Der Junge wusste, dass er mit Erreichen des 18. Lebensjahres nur die Wahl haben würde entweder auf der Seite Assads oder für die Terror-Truppen des IS zu kämpfen. Deshalb schloss er sich einem 22-jährigen Cousin an, der sich in die benachbarte Türkei absetzen wollte. Dort arbeitete er drei Monate in einer Schuhfabrik, ehe sich der Nichtschwimmer in einem vollgepferchten Schlauchboot über die Ägäis nach Griechenland übersetzen ließ. "Das will ich in meinem Leben nicht noch einmal machen müssen."

Zwölf Tage dauerte seine Flucht, bis er als Minderjähriger zunächst in die Obhut des Kamp-Lintforter Jugendamts gegeben und dann als Pflegekind von den van Egerens aufgenommen wurde. Dafür bekommen die Eheleute den gleichen Satz für Unterkunft und Verpflegung, der auch für die Pflegschaft von deutschen Kindern bezahlt wird. Für das Jugendamt lohnt sich die Sache, weil die Heimbetreuung um ein Vielfaches teurer ist.

Schnell wurde allen Beteiligten klar, dass sich da ein richtiges Eltern-Kind-Verhältnis entwickelte. "Irgendwann", so erinnert sich Sandra van Egeren, "kam Mohanad an und fragte, ob er uns Papa und Mama nennen könne." Den Kontakt mit seinen leiblichen Eltern ließ er jedoch nie abreißen. Über Telefon oder Whatsapp blieb er mit der Heimat in Verbindung. "Meine Familie zu Hause ist froh, dass ich hier neue Eltern gefunden habe", sagt er. "Wir werden nie vergessen, was Deutschland für uns getan hat." Er weiß aber auch, dass er seine leiblichen Eltern vermutlich für eine lange Zeit nicht sehen wird. Eine Rückkehr nach Syrien wäre für ihn lebensgefährlich, Vielleicht könnte er sich eines Tages mit seiner Mutter und seinen drei Geschwistern in der Türkei treffen. Aber sein Vater würde als syrischer Polizist auch dorthin keine Ausreisegenehmigung bekommen.

"Meine Zukunft liegt hier", sagt Mohanad. Nachdem seine deutschen Eltern für ihn ein dauerhaftes Bleiberecht erstritten haben, konzentriert er sich darauf, in Deutschland weiter Fuß zu fassen. Das gelingt ihm ziemlich gut. "Seit kurzem hat er auch eine Freundin", sagt seine Mutter und fügt stolz hinzu: "Ein hübsches Pärchen." Es bleibt nicht aus, dass bei solchen zwischenmenschlichen Entwicklungen auch kulturelle Unterscheide zutage treten. So nahm Dirk van Egeren seinen Pflegesohn eines Tages beiseite und führte mit dem Jüngling ein Gespräch von Mann zu Mann über die Dinge des Lebens. Für Mohanad war das zunächst ein Schock. Bei ihm zu Hause werde mit den Eltern über Sex nicht gesprochen. "Ich dachte, was will Papa jetzt von mir", sagt er grinsend.

Am Hermann-Gmeiner-Berufskolleg will er nach dem Hauptschulabschluss sein Fachabitur machen. Sein Berufsziel: "Ich möchte Polizist werden, wie mein Vater", sagt er. Leicht wird das nicht. Mohanad kann schon froh sein, überhaupt eine Schule gefunden zu haben, die einen 17-Jährigen aufnimmt. In Deutschland endet die Schulpflicht mit 16. Jetzt geht er in eine Klasse, in der nur Flüchtlinge sind. Gut gefällt es ihm da nicht. "Zu viel Streit und zu wenig Respekt", sagt er. Eine Weile dachte er schon, dass das in Deutschland so üblich sei, bis er einmal am Unterricht einer "deutschen" Klasse teilnehmen durfte. "Das war ganz was anderes." Jetzt hat er ein konkretes Ziel vor Augen: So gut Deutsch lernen wie möglich, um dann den Realschulabschluss machen zu können.

Natürlich hat Mohanad Heimweh, aber innerlich fühlt er sich manchmal schon jetzt im neuen Land zu Hause: "Wenn ich mit meiner Mutter in Syrien telefoniere, gebrauche ich manchmal ein deutsches Wort. Wenn mich dann meine Mama fragt: ,Was hast du gesagt?', antworte ich: ,Ach nichts, Mama.'"

(RP)
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