Serie In Dieser Woche - Vor 375 Jahren 300 Kugeln reißen eine Mauerbresche

Kempen · Über den Zinnen und Dächern der kurkölnischen Festungsstadt Kempen dämmert ein trüber Wintermorgen. Auf den Mauern regt sich nichts.

 Durch eine Bresche in der Stadtmauer - in Höhe der Turmmühle - rückt ein hessischer Stoßtrupp in das belagerte Kempen ein.

Durch eine Bresche in der Stadtmauer - in Höhe der Turmmühle - rückt ein hessischer Stoßtrupp in das belagerte Kempen ein.

Foto: Archiv der Erich Kästner Realschule Kempen

Hier und da späht ein fröstelnden Wachtposten durch die Schießscharten nach draußen ins Feld: Seit Tagen bietet sich dort der gleiche, bedrückende Anblick. Im heraufziehenden Licht bringen hessische und französische Kanoniere schwere Feldgeschütze in Stellung. Gleich, wenn es ganz hell sein wird, setzen sie ihre Beschießung fort. Seit dem 1. Februar 1642 sind mehr als 2000 Kanonenkugeln auf das Städtchen niedergegangen. Die Ellenstraße ist fast ganz zerstört; in der Krone der Stadtmauer klaffen breite Lücken. Stündlich ist mit dem feindlichen Sturmangriff zu rechnen.

KEMPEN Es sind französische und hessische Truppen, die da ihre Geschütze gegenüber vom Ellentor aufgefahren haben. Ihre Batterien stehen - um heutige Merkpunkte zu nennen - zwischen dem Amtsgericht und das Einkaufszentrum am Hessenring. Aus dem anfänglichen Glaubenskrieg zwischen Protestanten und Katholiken ist ein Machtkampf zwischen den europäischen Staaten geworden. Frankreichs Kardinal Richelieu ist auf die Seite der Protestanten getreten, um dem katholischen Kaiser in Wien zu schaden und Gewinn auf Kosten des Deutschen Reiches davonzutragen. Dabei hat der katholische Kardinal sich mit protestantischen Fürsten verbündet, mit der Landgräfin Amalie von Hessen und dem Herzog Bernhard von Weimar. Ende 1641 sind hessische, französische und weimarische Regimenter über den Rhein gerückt, sind ins katholische Kurfürstentum Köln eingefallen und haben am 17. Januar 1642 bei St. Tönis eine zahlenmäßig überlegene katholische Armee geschlagen. Nun ist der Weg frei nach Kempen.

 Der Kelch des Stadtkommandanten Reinhard von Widerholt - 1645 gestiftet - wird heute im Büro der Evangelischen Kirchengemeinde Kempen aufbewahrt.

Der Kelch des Stadtkommandanten Reinhard von Widerholt - 1645 gestiftet - wird heute im Büro der Evangelischen Kirchengemeinde Kempen aufbewahrt.

Foto: Wolfgang Kaiser

In der Stadt liegt eine kleine Abteilung kurkölnischer Söldner. Nur 300 Mann zählt der buntscheckige Haufen. Aber ihr Kommandant, der Hauptmann Nagel, will von Kapitulation nichts wissen: Er stachelt seine Truppe zum Widerstand an, weckt den Mut der Bürger. Am 7. Februar aber ist Kempen sturmreif geschossen.

Die Belagerer haben ihre Beschießung auf ein Mauerstück neben der wuchtigen, heute noch vorhandenen Turmmühle konzentriert, die seit zwei Jahrhunderten eine eigene Bastion im Mauerring bildet. Aber die Befestigung ist schon lange verwahrlost, und in den drei übereinander liegenden Geschützstellungen der Turmmühle gibt es keine Kanone mehr. Unter dem Feuer der Belagerer ist die Mühlenhaube mit einem Teil ihrer Flügel auf den Boden gekracht.

In der Frühe des 7. Februar donnert ein Hagel von mehr als 300 Kugeln gegen die Stadtmauer, die meisten in die Nähe des Mühlenturms. Das Gestein poltert in den inneren Stadtgraben, und an der Ostseite des Turms hat sich eine breite Mauerlücke geöffnet. Rasch bauen die Hessen einen behelfsmäßigen Übergang über den äußeren und inneren Graben und dringen truppweise in die Stadt ein. In dieser aussichtslosen Lage ziehen sich die Verteidiger in die Burg zurück. Es besteht keine Hoffnung, dass kaiserliche Truppen herankommen, und so wird kapituliert.

Die Sieger zitieren eine städtische Gesandtschaft vor das Kuhtor und diktieren einen großzügigen Friedensvertrag, der jedoch sein Papier nicht wert ist. Plünderung, Zerstörung und Schikanen folgen: Bis zu ihrem Abzug am 2. August 1649 kühlen abwechselnd protestantische Besatzer - Hessen und Niederländer - ihr Mütchen an der größtenteils katholischen Bevölkerung. Sie morden, plündern, vergewaltigen, zerstören durch Brandschatzung und mutwilligen Abbruch fast die Hälfte der Stadt. Aber auch für die innere Geschichte des Ortes haben die sieben Besatzungsjahre weitreichende Folgen.

Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist Kempen der wichtigste Wallfahrtsort am Niederrhein gewesen. In seiner Pfarrkirche war die Thronende Madonna der Anziehungspunkt für unzählige Pilger. Infolge der Wirren der Reformation (seit 1540) und nun durch die protestantische Besatzung ist den frommen Katholiken ihr Pilgerweg versperrt. Ab 1642 wird die Schutzmantelmadonna zu Kevelaer der Kempener Muttergottes mit der Weintraube endgültig den Rang ablaufen.

Vor der Eroberung der Stadt sind die Kempener Reformierten durch ihren Landesherrn, den katholischen Kurfürsten, wegen ihres Glaubens bedrängt worden. Unter der protestantischen Besatzung wendet sich das Blatt: Nun gerät die katholische Mehrheit unter Druck. Seit 1643 belegen hessische Garnisonsprediger für ihren reformierten Gottesdienst die Hälfte der heutigen Propsteikirche. Immer wieder kommt es zu Entweihungen durch die evangelischen Besatzer. Ein Beispiel: Als 1644 und im April 1645 der hessische Oberbefehlshaber Caspar Graf Eberstein zur Inspektion seiner Soldaten in Kempen erscheint, wird die Musterung mit Trommelschlag, Pfeifenspiel und lautem Kommandogeschrei nirgendwo anders als in der Pfarrkirche abgehalten.

Als besonders schikanös erweist sich Stadtkommandant Oberst Reinhart von Widerholt. Auf die Beschwerden der Kempener hin wird er schließlich abgelöst. Aber gegenüber seinen Glaubensgenossen ist er generös, spendet 1645 der evangelischen Gemeinde einen silbernen Abendmahlskelch mit Widmung. Der ist heute noch das älteste Kleinod der Kirchengemeinde und hat Eingang in deren Gemeindesiegel gefunden. Indes: Als die Stadt ab 1649 wieder fest unter der Herrschaft des katholischen Kurfürsten steht, werden die Evangelischen endgültig zur Rückkehr zum katholischen Glauben gezwungen oder müssen die Stadt verlassen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erlischt das evangelische Leben in Kempen. Erst 1845 wird eine neue Gemeinde gegründet.

Dritte Folge: Zehn Jahre nach dem Abzug der Besatzung gründet die Stadt ein Gymnasium. Als die Verhältnisse sich zu normalisieren beginnen, soll im Bereich der Bildung ein Impuls gesetzt werden, um der eingerissenen Verwahrlosung der Jugend zu steuern. Ein Zeichen soll gesetzt werden für moralische und geistige Erneuerung im Sinne des damaligen humanistischen Schulideals. Auf Vorschlag des Stadtsekretärs Ägidius Wilmius wird zunächst die schon lange bestehende Lateinschule am Kirchplatz auf fünf Klassen erweitert, damit Kempener Schüler drei Jahre lang Grammatik, Poetik und schließlich Rhetorik büffeln können. 1662 ist der Aufbau der Anstalt vollendet. Erstmals 1664 taucht auf dem Schulsiegel der Name Gymnasium Thomaeum auf.

In der nächsten Folge: Kempen bekommt ein Lehrerseminar

(hk-)
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