Kempen Adrian Linke, der Kult-Rio von Krefeld

Kempen · Wer dem "König von Deutschland" seine Reverenz erweist, muss Zeit einplanen. Der Premiere des Rio-Reiser-Abends folgten fast 20 Minuten lang Jubel und Zugaben. Überragend war Adrian Linke in der Titelrolle.

 Kaputt, verzweifelt, hochsensibel: Adrian Linke (2.v.l.) als Rio Reiser. Der Schauspieler gibt der Kult-Figur eine Stimme, die übers Ohr direkt ins Herz geht.

Kaputt, verzweifelt, hochsensibel: Adrian Linke (2.v.l.) als Rio Reiser. Der Schauspieler gibt der Kult-Figur eine Stimme, die übers Ohr direkt ins Herz geht.

Foto: Matthias Stutte

Sie hätten sich "Möhren Brötchen Duplo" nennen können. Oder "Die Kinder vom Bahnhofsklo". Vielleicht auch "Scheiße, die Bullen kommen". Doch in der 70er-Jahre-WG findet sich für diese und 76 weitere Vorschläge keine demokratische Einstimmigkeit. Mit dem Bier in der Hand und der Kippe im Mundwinkel einigt man sich auf "Ton Steine Scherben" - voller Kampfgeist, mit Musik eine radikale Haltung zur Welt einzunehmen, aber völlig ahnungslos, dass in diesem Moment am 18. August 1970 ein wichtiges Kapitel deutscher Musikgeschichte beginnt.

Heiner Kondschak schlägt dieses Kapitel auf und setzt mit "Rio Reiser - König von Deutschland", das er 2004 im Auftrag des Theaters Tübingen schrieb, einem Mann ein Denkmal, der noch heute für viele Kult ist und in seinen Texten auch 20 Jahre nach seinem Tod den zeitgeistigen Nerv trifft. Harald Stieger (Bühne) und Lydia Merkel (Kostüme) illustrieren das Leben in einer schmuddligen WG voller Bierkästen und dauerleerem Kühlschrank, wo die Haschischtüte die Runde macht und Ideologien und Anti-Haltungen durchdekliniert werden. Es ist die Zeit, in der man zwischen Flohmarkt-Mobiliar abhing, statt in Lounges zu chillen, Häuser besetzte, statt Designerlabels zu feiern, und tief im Inneren an die Revolution glaubte, aus der die Welt besser herausgehen würde.

Davon sang Rio Reiser in seinen Songs. Und mitten im Chaos der Gesellschaftsverweigerer, wo Beziehungen ebenso lax und ungeordnet gehandhabt werden wie die leeren Bierpullen, die überall herumfliegen, ersinnt er die schönsten Liebestexte. Mit Liedern wie "Blinder Passagier", "Für immer und dich", "Zauberland" oder "Junimond" zielt er mitten ins emotionale Zentrum. Das ist zeitlos. Darauf kann Kondschak, der auch als Schauspieler und Multiinstrumentalist mitwirkt, vertrauen. Die Songs hat er neu arrangiert. Und, o Wunder, der Rebellenmusik tut eine Geige (von Eva Spott wunderbar gespielt) und eine Mandoline gut. Laut ist das, was auf der Bühne passiert, immer noch: Willi Haselbek und seine Musiker Kim Jovy, Christoph Kammer, Jörg Kinzius, Olaf Scherf und Kondschak geben Vollgas. Aber hier geht es nicht mehr nur um Haltung, sondern auch um Würdigung. Die Schauspieler sind mit Herz und Leidenschaft "Töne, Steine und Scherben": Philipp Sommer ist als R.P.S.Lanrue das Vorbild für Obercoolness, Rainer Hustedt, Bruno Winzen, Anna Pircher und Eva Spott lassen Erinnerungen an die bewegte Vergangenheit aufflackern. Viele Songs singt die "Band" gemeinsam, auch im zweiten Teil des Stücks, der von der Solokarriere Rio Reisers erzählt. Trotzdem ist das sein Abend: Adrian Linke würdigt den Rockpoeten auf umwerfend feinnervige Art. Linke ist im Ensemble der Spezialist für Psychogramme mit Rhythmusstörungen, der Meister der gebrochenen Persönlichkeiten. Wenn er die Augen schließt, fast betet "Ich seh für dich, hör für dich. Ich lüge und ich schwör für dich. Ich hol den blauen Mond für dich", dann klingt raue Zärtlichkeit mit, die umhaut. Linke singt in seinem eigenen Ton mit dem leicht schorfigen Klang und einer Stimme voller Lebensfurchen. Und das erklärt mehr über das Phänomen einer Kultfigur als die oft nur herunterzitierten biografischen Daten, in denen KPD und RAF für jüngere Zeitgenossen übersetzt (wenn auch nicht erklärt) werden. Aber am Ende steht das ganze Publikum. Sie jubeln Seite an Seite: Die, die sich an die bewegten Zeiten erinnern; die, die niemals in einer WG aufgewacht und über alkoholisierte Übernachtungsgäste gestiegen sind, die sie nicht kannten; und die, die Reiser bisher nur als "König von Deutschland" wahrgenommen haben. Wer den knapp dreistündigen Abend erleben will, muss Zeit einplanen. Das Premierenpublikum applaudierte 20 Minuten lang.

(RP)
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