Serie Kempens Schwärzester Tag (3) Als die Bomber wieder weg waren

Kempen · 10. Februar 1945: Nachmittags um viertel nach drei ist Kempens schwerster Luftangriff vorüber, aber militärisch hat er sein Ziel verfehlt. Die Überlebenden klettern aus den Kellern, bergen Verletzte, Verschüttete und Tote.

KEMPEN Als die Bomber abgeflogen sind, blockieren Schutt, Steine, Balken und zersplitterte Bäume die Straßen. Mühsam bahnen die Menschen sich einen Weg, machen sich ans Bergen der Verletzten und Toten. Vorneweg die halbwüchsigen Helfer, aus denen Feuerwehr und Rotes Kreuz damals bestehen; die erwachsenen Männer sind Soldat. "Das war für uns knapp 16jährige Burschen keine leichte Aktion", hat sich der 2005 verstorbene Rudi Körvers erinnert, der damals als Rotkreuz-Helfer im Einsatz war.

Im Rokoko-Saal des Franziskanerklosters legen die DRK-Helfer die Leichen ab - oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Auf dem Parkett liegen sie, mit Leintüchern zugedeckt, auf Tragbahren oder Brettern. Um die Mutter, den Bruder, den Sohn zu identifizieren, schlagen die Angehörigen die Tücher von den Gesichtern. Dann werden die Toten auf Lkw zum Friedhof gefahren.

Während der mühsamen Bergungsarbeiten steht das Löschfahrzeug der Kempener Feuerwehr auf dem Möhlenring geparkt. Als die Feuerwehrleute am späten Nachmittag wieder losfahren wollen, machen sie einen grausigen Fund: Jemand hat einen Frauenfuß, noch mit einem Stück Strumpf bekleidet, aufs Trittbrett gelegt. Der Körperteil wird einer der beiden Schwestern gehört haben, die im Haus Möhlenring 27 gewohnt haben. Auguste (53) und Helene (54) Pasch sind Lehrerinnen gewesen. Sie haben beim Hausbesitzer Josef Schroers zur Miete gewohnt. Das Haus ist völlig zerstört; wo es gestanden hat, gähnen nun mehrere Trichter. Von den Frauen hat man nie mehr etwas gefunden. Aus dem Nachbarhaus (Möhlenring 29) haben kurz vor dem Angriff die Eheleute Henrik und Minna Haus zu flüchten versucht. Der Luftdruck einer explodierenden Bombe hat ihre Körper in die Baumkronen des Rings geschleudert. Schwer verletzt werden sie ins Oedter Krankenhaus gebracht.

Heinrich Maas aus St. Hubert, damals mit dem St. Huberter Löschzug in der Kempener Innenstadt im Einsatz, erinnert sich, wie er sich mit seinen Kameraden in den Keller eines Hauses durcharbeitete und dort ein Paar fand, die Arme umeinander gelegt: "Sie waren tot, erstickt." Bis zum Abend sind in Kempen etwa 50 Leichen geborgen.

Bis nach Mitternacht kreisen Aufklärer und Tiefflieger über der Stadt, werfen ab und zu leichte Bomben, um die Bergungsarbeiten zu stören, oder jagen mit ihren Bord-MG Salven in die vom Feuerschein erhellten Straßen. In den Trümmern und im Straßenschutt liegen Blindgänger; Bomben, die nicht explodiert sind. Mehr als acht Tage ist die Wehr noch mit Lösch- und Bergungsarbeiten beschäftigt.

Die katholische Pfarrgemeinde bestattet die Toten dieses Angriffs an vier aufeinander folgenden Tagen, vom 16. bis zum 20. Februar, morgens um 7 Uhr. Noch lange treten beim Trümmerräumen menschliche Überreste zutage. Wochen nach dem Angriff - der Zweite Weltkrieg ist für Kempen schon zu Ende - findet sich Ecke Klosterstraße/Kuhstraße, wo sich vorher das Fahrrad-/Motorradgeschäft von Julius Hüren befand, ein skelettierter Leichnam. Er hat einen Ledermantel an. Es handelt sich um den Chemiker Friedrich Maria Frank (36), wohnhaft Kurfürstenstraße 3, der gerne mit seinem Motorrad durch die Stadt fährt. Wahrscheinlich hat er sich in dem Motorrad-Fachgeschäft nach einer neuen Maschine umgesehen. Bald wird in Kempen erzählt, es handele sich um einen toten Soldaten, einen "Kradmelder", und er habe unter dem Schutt noch auf seinem Motorrad gesessen.

Als im Juni 1945 die Nachbarn der Familie Büskens wieder ihr Haus Möhlenring 13 beziehen wollen, stoßen sie im Durchgang auf die stark verwesten Überreste eines deutschen Landsers. Schon lange hat man Leichengeruch an dieser Stelle wahrgenommen, aber die Schuttberge waren so umfangreich, dass man zunächst ganz gezielt diejenigen suchte, von denen man wusste, dass und wo sie verschüttet waren.

Auch das Heiligenhäuschen mit der Figur der Mutter Anna und Maria eingangs der Ellenstraße ist damals zerstört worden. Am 21. April 1945 findet sich unter seinen Trümmern die Leiche von Franz Hufer (60), von 1920 bis 1936 Bote der Stadtverwaltung und später Hausfaktotum des Heilig-Geist-Hospitals, der den Patienten Gänge abnahm, ihnen beispielsweise ihre Medizin von der Apotheke holte.

Warum haben die Amerikaner die Stadt bombardiert? Zwei Tage vor dem Kempener Angriff, am 8. Februar, haben Engländer und Kanadier im Norden mit einem dichten Trommelfeuer ihre Großoffensive "Veritable" aus dem Raum um Nimwegen mit Stoßrichtung auf Kleve, Goch und Geldern eröffnet. Der deutsche Widerstand ist erbittert, die Alliierten erleiden schwere Verluste. Die dürfen nicht noch größer werden. Im westlichen Teil des Landkreises Kempen-Krefeld und bei Rheydt und Mönchengladbach liegt damals die kampfkräftige 116. deutsche Panzerdivision. Die Alliierten wollen verhindern, dass dieser Verband über den Verkehrsknotenpunkt Kempen gegen die schwer ringenden englisch-kanadischen Angreifer im Reichswald geworfen wird.

So befehlen sie einen Bombenangriff, um die Westausgänge der Stadt und ihr Schienennetz zu zerstören. Das gelingt nur teilweise. Der Angriff der ersten Staffel, die dem Nordwesten der Stadt galt, erfolgte durch eine Lücke in der Wolkendecke und richtete verheerende Schäden im Bereich Mülhauser Straße, Möhlenring und Wachtendonker Straße an. Die zweite Staffel hingegen, die den Nordosten angreifen sollte, traf auf eine Decke aus Kumuluswolken, die etwa sieben Zehntel des Zielgebiets verdeckte. So kamen das Gelände um den Bahnhof und die Eisenbahnstrecke davon, und auch die Durchgangsstraßen wurden nur unwesentlich beschädigt.

Fazit: Der militärische Verkehr über den Knotenpunkt Kempen rollte ungehindert weiter. Der aufwendige Angriff hatte sein Ziel verfehlt - aber 90 Menschen getötet.

(RP)
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