Serie Vor 32 Jahren Als Kempen noch schluffig war

Kempen · Die Industriebahn, 1871 in Betrieb genommen, war Kempens dritte Zugstrecke. Bereits 1863 war der Ort, damals noch Kreisstadt, zur Station an der Route von Köln nach Kleve geworden. Damit bekam er seinen ersten, heute noch stehenden Bahnhof. Von diesem Bahnhofsgebäude ausgehend, kam dann 1868 mit der Linie Kempen-Venlo der Anschluss an die Niederlande dazu. Zu diesen beiden überregionalen Hauptbahnstrecken gesellten sich bald zwei regionale Nebenbahnen.

 Am Oedter Schluff-Bahnhof um 1905: Zugpersonal und Fahrgäste posieren vor der haltenden Bahn.

Am Oedter Schluff-Bahnhof um 1905: Zugpersonal und Fahrgäste posieren vor der haltenden Bahn.

Foto: Nachlass Karl Wolters

kempen Die erste der beiden Nebenbahnen war, seit 1871, die Industriebahn. Über die Station Oedt führte sie in einem Schienenkreis bis nach Süchteln und Viersen. In Kempen wurde für sie der schmucke kleine Bahnhof gebaut, den man dann 1985 abriss. Die zweite Nebenbahn war seit 1902 die Geldernsche Kreisbahn. Eine Schmalspurstrecke, an die in Kempen heute noch die Kleinbahnstraße erinnert. An dieser Straße lag ihr Stationsgebäude, von dem aus sie nach Wachtendonk dampfte und weiter nach Straelen und Kevelaer.

Ein Bahnbetriebswerk für die Wartung der Loks mit Drehscheibe, ein Ablaufberg zum Zusammenstellen der Züge, Laderampen und Güterschuppen, schließlich die Anschlussgleise verschiedener Betriebe erforderten weitere Schienen. Fazit: Um 1930 führten 40 Gleise von Kempen aus in sechs Himmelsrichtungen. Keine Stadt dieser Größe konnte sich eines solchen Schienennetzes rühmen.

Warum hat man die Industriebahn gebaut? Als 1863 der Bahnbetrieb von Köln über Kempen nach Kleve begann und fünf Jahre später auf der Strecke von Kempen nach Venlo, waren Hüls und Süchteln nicht zum Zuge gekommen. Dabei brauchten die beiden Orte dringend gute Verkehrsverbindungen. Den Anstoß lieferte die Modebranche zu Beginn der 1860er-Jahre: Damals mischten Textil-Designer, an der Spitze Charles Worth, der ein Atelier in Paris betrieb, die Damenmode mit kostbaren Materialien auf, vor allem mit Samt und Seide. Das führte seit 1864 zu einem Boom der Samt- und Seidenweberei, vor allem in Krefeld, wo die Seidenfabrikation schon seit dem 17. Jahrhundert zu Hause war. Die Krefelder Seidenbarone suchten Hände ringend Heimarbeiter im Umland. Bald beschäftigten sie in den Nachbarorten zahlreiche Heimweber, die in ihren Häuschen auf Handwebstühlen Samt- und Seidenstoffe produzierten. Besonders von Süchteln aus war es dann schwierig, die fertigen Produkte zur Ablieferung in die Seidenstadt zu bringen und Rohseide vom Fabrikanten zur Verarbeitung abzuholen.

Deshalb wurde 1865 eine "Crefeld-Kreis Kempener Eisenbahngesellschaft" (CKK) gegründet, die 1868 mit dem Bau einer Industriebahn zur Verbindung der Orte im östlichen Kreis Kempen mit Krefeld begann. Als diese Bahn 1871 Fahrt aufnahm, gewann Deutschland gerade den Krieg gegen Frankreich. Damit war die französische Konkurrenz ausgeschaltet, und die Konjunktur in Seide trieb auf ihren Höhepunkt. Die Industriebahn kam also genau richtig. Bald aber änderte sich die Mode, Wirtschaftskrisen stellten sich ein, und die Bahn ging in Konkurs. 1880 wurde sie als "Crefelder Eisenbahngesellschaft" wieder auf die Schiene gebracht. Streckenerweiterungen und Gleisanschlüsse an andere Bahnen vergrößerten ihren Zugverkehr. Zur Seidenindustrie kamen wachsende Transporte anderer Branchen und der aufblühenden Landwirtschaft. Resultat: 1908 passierten den 1985 abgebrochenen Kempener Bahnhof mit seinen fünf Mitarbeitern täglich neun Züge. Die Warentransporte stellten Betriebe, die ihren Sitz aus logistischen Gründen in der Nähe der Bahn aufgeschlagen hatten wie die Eisenmöbelfabrik Arnold; die Elektrochemische Fabrik, damals noch St. Huberter Straße 9; und die Ölmühle Bartholomäus Dammer, Arnoldstraße/Ecke St. Huberter Straße.

Von der Bevölkerung bekam die Industriebahn bald den Spitznamen "Schluff"; nach dem mundartlichen Ausdruck für offene Hausschuhe oder Schlappen, in denen man nicht schnell vorankommt. An einen solchen Schluff-Pantoffel erinnerte das zischende Geräusch der Lok. Aber bei aller Gemächlichkeit spielte das Bähnlein für die Wirtschaft eine wichtige Rolle. Es diente als Transportmittel für die heimischen Fabriken und die Landwirtschaft. Dadurch förderte die Nebenbahn Gewerbe und Industrie im östlichen Teil des Kreises Kempen. Die Streckenführung von Viersen über Süchteln, Süchteln-Vorst, Grefrath, Oedt, Kempen, St. Hubert, Hüls, Krefeld, St. Tönis und wieder nach Süchteln bildete einen vollständigen Kreis. In Krefeld und Kempen erhielt der Schluff Anschluss an die Staatsbahn (später Reichsbahn), in Süchteln Verbindung mit der Mönchengladbacher-Venloer Bahn. Von Hüls wurde 1881 eine Strecke nach Moers gebaut. Damit war die Industriebahn nicht nur mit Krefeld, sondern auch mit dem Mönchengladbacher Industriegebiet und dem Moerser Kohlenrevier verbunden. Kurz: Die Industriebahn trug wesentlich zur Bedeutung Kempens als Eisenbahnknotenpunkt bei und förderte den Wohlstand der Stadt und ihres Umlandes.

Die Wirtschaftsflaute nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg brachte die Bahn erneut an den Rand eines Konkurses, bis 1921 die Stadt Krefeld die Betriebsführung übernahm. Die Modernisierung und Vergrößerung des Wagenparks lockte mehr Fahrgäste an: In den zehn Stationen der Industriebahn stieg die Zahl der verkauften Fahrkarten auf 440.000 in 1926. Weil infolge der Konjunkturerholung die Motorisierung zunahm, stürzte sie dann aber auf 347.535 im Jahre 1927 ab. 1933 hieß es schließlich für alle Passagiere: "Umsteigen auf den Bus!" Die Bahn diente nur noch dem Güterverkehr, Personenbeförderung lohnte nicht mehr - bis 1939 der Zweite Weltkrieg begann und die meisten Autobusse für Militärtransporte eingezogen wurden. Daher koppelte der Schluff im September 1939 wieder seine Personenwaggons an.

In den 1950er-Jahren sanken die Beförderungszahlen der Industriebahn im Personen- und auch im Güterverkehr wieder drastisch ab. So stellte man 1951 die Personenbeförderung auf den Abschnitten Krefeld-Hüls-Kempen ein und den Güterverkehr von Kempen bis Oedt. 1972 wurde auch der Güterverkehr zwischen Hüls und St. Hubert beendet, 1974 der Abschnitt St. Hubert-Kempen stillgelegt, 1981 der von Krefeld nach Kempen. Nur noch der Anschluss der Arnold-Metallbaufabrik direkt am Bahnhof wurde bedient. Am 19. August 1985 fuhr auch hier die letzte Lok. - Heute kennt man den Schluff nur noch als Ausflugszug. Seit 1980 dampft er als Museumsbahn. Seit 1981 bringt er im Sommer jedes Wochenende Freizeitpassagiere von St. Tönis über den Krefelder Nordbahnhof zum Hülser Berg.

Dann - ein Nachspiel. Für die Sitzung des Kempener Kulturausschuss am 14. Februar dieses Jahres hatte die Verwaltung den Vorschlag gemacht, die neue Straße zwischen der Verbindungsstraße und den Bahngleisen nach einem verdienten, 1999 verstorbenen Kempener Kinderarzt "Dr.-Luft-Straße" zu nennen. Aber weil die Industriebahn auf ihrem Weg nach Oedt die zu benennende Straße gequert hatte, schlugen die Kempener Werner Beckers, Manfred Rehnen und der Verfasser dieses Beitrags den Namen "Industriebahnstraße" vor - zur Erinnerung an den "Schluff", an seine Verdienste um Kempen und als Ergänzung zum Namen der unweit verlaufenden "Kleinbahnstraße". Der Kulturausschuss stimmte dem Vorschlag mit zehn zu fünf Stimmen zu, aber die entscheidende Sitzung des Haupt- und Finanzausschusses am 28. März brachte dann eine knappe Mehrheit von zehn zu acht für eine "Dr. Luft-Straße".

Vielleicht gibt es ja noch andere Möglichkeiten, an die Bedeutung des imponierenden Eisenbahnknotenpunkts Kempen zu erinnern. Zum Beispiel eine attraktive Bild-Text-Tafel an publikumswirksamer Stelle vor dem Bahnhof.

In der nächsten Folge: Kempens erster großer Luftangriff

(hk-)
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