Interview: Serie 9. November 1989 - 25 Jahre Maueröffnung Als zwei Ost-Verwandte vor der Tür standen

Kempen · Im August 1989 nutzten zwei Ostdeutsche die Grenzöffnung in Ungarn, um über Österreich in den vermeintlichen goldenen Westen zu gelangen. Die Beiden hatten Verwandtschaft in Kempen. RP-Mitarbeiterin Silvia Ruf-Stanley erinnert sich.

So sieht die symbolische Lichtgrenze aus 7000 Ballonen aus
53 Bilder

So sieht die symbolische Lichtgrenze aus 7000 Ballonen aus

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KEMPEN Als im August 1989 die Bilder aus Ungarn im Fernsehen gezeigt wurden, konnten mein Vater und ich es kaum glauben. Hunderte DDR-Bürger, die ungehindert den ungarischen Grenzzaun durchschnitten und nach Österreich flohen? Grenzsoldaten, die sogar noch hilfreich den Draht zusammen rollten?

Mein Vater, der selbst aus Leipzig stammt, war in Sorge um seine Familie, die noch in der DDR lebte. Eine Tante und ihre Familie wohnten in Burgstädt. Das würde für die Zurückgebliebenen jetzt noch enger in ihrem Staat, meinte er. Zweimal war er zu Besuchen dort gewesen und jedes Mal sehr bedrückt zurück gekommen. Und ich, aufgewachsen mit der ganzen Schulpädagogik geprägt vom Kalten Krieg, war ebenfalls sehr erstaunt, dass dies hier alles friedlich vor sich ging. Wir wussten ja nicht, dass dies der Beginn einer insgesamt friedlichen Revolution war.

Ein paar Wochen später klingelte bei uns das Telefon. Das Aufnahmelager Schöppingen fragte nach, ob wir eine Maria Stiegler kennen würden. Ja, das sei die Enkelin seiner Tante, sagte mein Vater. Maria und ihr Freund Olaf waren in Schöppingen und hatten uns als Adresse angegeben. Schließlich waren wir die einzigen Westverwandten. Ob wir die beiden denn aufnehmen würden? Das war natürlich für uns gar keine Frage. Platz gab es genug im Haus. In drei Tagen kommen die Beiden, hieß es dann. "Jetzt haben die rüber gemacht", sagte mein Vater, noch ziemlich erstaunt. Ich kann mich gut daran erinnern, wie überrascht ich war, dass er diese DDR-typische Formulierung benutzte.

Ein bisschen Bammel gab es dann doch vor der Ankunft der Verwandten aus dem Osten. Schließlich hatte mein Vater Maria das letzte Mal als Schulkind gesehen, Olaf kannte er gar nicht. Und ich kannte Maria nur aus den Briefen von Tante Hilde. So war das Ankommen erst mal sehr steif. Man war sich halt fremd. Glücklicherweise war mein Vater auf den guten Gedanken gekommen, als Abendessen ein Grillen anzubieten. Das lockerte dann die Stimmung. Alle hatten irgendwie viele Fragen, aber es dauerte lange, bis das Gespräch so richtig in Gang kam.

Es sei eine spontane Idee gewesen, nach Österreich zu fliehen, erzählten die beiden Verwandten. Auf dem Campingplatz, wo sie Urlaub machten, ging die Nachricht von der Grenzöffnung der Ungarn wie ein Lauffeuer herum. Also packten sie das Nötigste und machten sich auf den Weg. Gedanken um ihre Familien hätten sie sich in dem Augenblick gar nicht gemacht, sagten sie. Sie wollten einfach nur raus, in die Welt, die sie aus dem West-Fernsehen kannten.

Die nächsten Tage waren angefüllt mit vielen Wegen zu Ämtern. Da kam schon der erste Kulturschock für Maria. Denn sie hatte sich den goldenen Westen doch etwas anders vorgestellt. Wir hatten kein Auto mehr. Also ging alles nur mit dem Fahrrad oder per öffentlichem Nahverkehr. Olaf nahm das gelassen und nutzte die Gelegenheit, in seiner zupackenden Art gleich noch alle unsere Fahrräder auf Vordermann zu bringen. Maria fand es dagegen gar nicht gut, dass wir keine Spülmaschine hatten. Und dass mein Vater sie immer wieder aufforderte, mir doch bitte im Haushalt zu helfen. Schließlich arbeitete ich den ganzen Tag und kochte dann noch für die größer gewordene Familie. Nein, zu Hause hätte sie nicht helfen müssen. Das hätte alles Oma gemacht. Außerdem könnte sie nicht kochen und an die Waschmaschine traute sie sich nicht ran. Von diesen Gesprächen weiß ich nur aus den Erzählungen meines Vaters, aber ich glaube, seine eigentlich bärenstarke Geduld wurde da ziemlich strapaziert.

Ganz komplikationslos ließ sich beim Straßenverkehrsamt Olafs Lkw-Führerschein umschreiben. Dank Verbindungen aus seinem früheren Arbeitsleben fand mein Vater für ihn schnell eine Stelle bei einer Spedition.

Schwieriger war es mit Maria. Sie hatte in der DDR in einer Apotheke gelernt, so etwas Ähnliches wie Apothekenhelferin bei uns. Aber das musste hier von der Apothekerkammer anerkannt werden. Also musste erst das Prüfungszeugnis aus der DDR geschickt werden. Da konnte meine Cousine in Krefeld weiter helfen. Ihr früherer Lehrherr war Mitglied in der Kammer und nahm sich des Ganzen an. Er fand sogar noch eine Stelle für Maria.

Wie überhaupt die Welle der Hilfsbereitschaft beeindruckend war. Als sich in der Nachbarschaft herum sprach, dass die Beiden schon auf dem Weg in eine eigene selbstständige Wohnung waren, kamen Hilfsangebote von allen Seiten. Der eine hatte noch Geschirr, die anderen schenkten Bett- und Tischwäsche sowie vielerlei nützliche Dinge. Möbelstücke waren auch mit dabei. Es war zwar alles gebraucht, aber ich wäre froh gewesen, so viele Sachen für meine erste eigene Wohnung gehabt zu haben. Olafs Chef überließ für den Umzug bereitwillig ein Fahrzeug.

Richtig warm geworden sind wir mit den Beiden in der ganzen Zeit, die sie bei uns in Kempen gewohnt haben, nie. Alle Bemühungen, mehr Nähe zum Beispiel durch gemeinsame Ausflüge in die Umgebung zu erreichen, scheiterten. Zwar hatte zwischen den Familien immer brieflicher Kontakt bestanden, aber in erster Linie auf der Ebene der Elterngeneration. Irgendwann hörten wir, dass Olaf und Maria sich getrennt hatten. Maria ist zurück nach Burgstädt gegangen.

Als mein Vater und ich am 9. November 1989 die unbeschreiblichen Bilder vom Mauerfall sahen, waren wir beide traurig. "Unsere" DDR-Bürger waren fremd gekommen, fremd geblieben, fremd gegangen.

(sr)
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