Serie Vor 77 Jahren Die 30. Infanteriedivision in Kempen

Kempen · An die 1000 Soldaten liegen nach dem Feldzug gegen Polen im Winter 1939/1940 in der kleinen Stadt, die damals mit Schmalbroich knapp 10.000 Einwohner zählt. Zu ihnen kommen die kasernierten Bauarbeiter, die jeden Tag mit der Bahn zum Bunkerbau an die niederländische Grenze gebracht werden. Insgesamt hausen so 3500 Mann in und um Kempen - ein Drittel der Bevölkerung. Das gedrängte Zusammenleben beeinträchtigt die Hygiene. Im Oktober 1939 bricht unter dem zivilen Personal des Kempener Krankenhauses Paratyphus aus; am 26. Oktober sind zwölf Fälle bekannt. Man errichtet eine Quarantäne-Baracke, um sie zu isolieren.

 Vor dem Kuhtor hat eine Verkehrsregelungsabteilung die viel befahrene Route in den Grenzraum mit Schildern kenntlich gemacht.

Vor dem Kuhtor hat eine Verkehrsregelungsabteilung die viel befahrene Route in den Grenzraum mit Schildern kenntlich gemacht.

Foto: Kreisarchiv

KEMPEN Die Bevölkerung ist erleichtert über den raschen Sieg der Wehrmacht über Polen, und so nimmt sie "ihre" Soldaten freundlich auf. Während ihres dreiwöchigen Einsatzes in Polen hat die 30. Infanteriedivision, die nach dem Ort ihrer Aufstellung auch "Lübecker Division" genannt wird, an die 1800 Mann verloren. In den Gemeinden des Landkreises Kempen-Krefeld einquartiert, wird sie durch neue Rekruten aus Norddeutschland wieder auf ihre alte Stärke von 15.600 gebracht und neu ausgerüstet. Im Kempener Land sind die Wäldchen voll von Fahrzeugen und Geschützen, gegen Fliegersicht getarnt. Divisionskommandeur ist der legendäre Kurt von Briesen - damals gerade zum Generalleutnant befördert. Ein Haudegen, der zum Andenken an eine Verwundung aus dem Ersten Weltkrieg am linken Arm statt der Hand eine Ledermanschette trägt. Im Polenfeldzug hat er sich meist in der vordersten Linie aufgehalten und ist auch prompt verwundet worden - am noch unversehrten rechten Arm. Sein Logis schlägt er allerdings nicht im überfüllten Kempen auf, sondern in Hüls.

Briesen ist mit Leib und Seele Soldat - und ein glühender Nationalist, wie es zu jener Zeit auch noch Claus Graf von Stauffenberg war, der fünf Jahre später versucht, Hitler zu töten. Als der General am 26. Oktober 1939 im alten Kempener Rathaus am Markt die Offiziere der umliegenden Einheiten zu einer Besprechung um sich versammelt, findet er geradezu religiöse Worte für den jetzt zu führenden Krieg. Dem deutschen Volk müsse endlich der Platz in der Welt eingeräumt werden, der ihm gebühre: "Jeder Offizier muss bereit sein, dafür zu sterben!" Am 20. November 1941 wird er - von der Maschinengewehrgarbe eines russischen Schlachtfliegers getroffen - in Russland den Tod finden.

 Feucht-fröhlicher Kameradschaftsabend im Saal einer Kempener Gaststätte.

Feucht-fröhlicher Kameradschaftsabend im Saal einer Kempener Gaststätte.

Foto: Monika Westphal

Die Landser werden zunächst in Schulen und Sälen untergebracht. "Zeitweise lagen bis zu 60 Mann mit ihren Strohsäcken in unserem 100 Quadratmeter großen Saal", hat Renate Baumeister berichtet, deren Vater, der Konditormeister Heinrich Peerbooms, damals an der Kuhstraße 34 eine Bäckerei und Konditorei mit Café betrieb. Aber die zugeteilten Quartiere sind nicht endgültig. Um die Truppe beweglich zu erhalten, kommt es mehrfach zum Wechsel der Unterkünfte. Solche Umquartierungs-Aktionen lässt der Divisions-Kommandeur mit Vorliebe nachts im Rahmen unangekündigter Alarmübungen durchführen: "Nur keinen Rost ansetzen!" Im Dezember setzt strenger Frost ein, am 11. Januar 1940 fällt das Thermometer auf minus 24 Grad, und die Saal-Unterkünfte sind nur schlecht zu heizen. So werden die frierenden Krieger kurz vor Weihnachten, soweit möglich, in Privatquartiere verlegt. Fast jeder findet herzlichen Anschluss an seine Kempener Familie.

Anfang März beginnt wieder der Ausbildungsbetrieb. Rudi Körvers, damals zwölf Jahre alt, hat berichtet, wie auf der Wiese vor seinem Elternhaus am Oedter Pfad strafexerziert wurde: "Die kleinsten Vergehen wurden schon mit Drill belegt, das ging eine halbe Stunde, eine Stunde, je nachdem. Da war ein Unteroffizier namens August, der lieh sich von meiner Mutter, die gerade Wäsche aufhing, alte Ziegelsteine aus. Mutter kannte seine Absicht nicht, sonst hätte sie die Klinker nicht hergegeben. Mit den Steinen mussten die Jungs sich ihre Tornister bis oben hin voll packen und dann, mit dem zentnerschweren Gepäck auf dem Rücken, im Laufschritt über die Wiese hetzen, volle Deckung nehmen. Und wieder brüllte der Schleifer: 'An den Horizont - Sprung auf, marsch, marsch!!' Einem Soldaten, der nicht mehr konnte, trat der Unteroffizier mit seiner genagelten Stiefelsohle ins Kreuz. Meine Mutter hat sich darüber furchtbar erregt; sie hatte nicht geglaubt, dass so etwas in unserer Wehrmacht möglich war..."

Als am 2. April 1940 der Befehlshaber der über den Niederrhein verteilten 6. Armee General Walter von Reichenau die Stadt betritt, schreitet er eine Ehrenkompanie der 30. Division ab. Neben den Soldaten steht eine Formation der Hitlerjugend - zehn- bis 18-jährige Kempener Jungs - und eine Abordnung des Kempener "Bund deutscher Mädel". Reichenau, vor dem hier uniformierte Kempener Kinder stramm stehen, wird während des Krieges zum Kriegsverbrecher und Kindermörder werden. Überliefert ist etwa, wie am 22. August 1941 etwa 90 jüdische Kinder, die die Erschießung ihrer Eltern hatten mit ansehen müssen und nun hungrig und ängstlich in einer Baracke zusammengepfercht waren, auf Reichenaus ausdrücklichen Befehl ebenfalls erschossen wurden, "damit aus ihnen keine Rächer entstehen."

Von Reichenau ist in diesem Frühjahr nicht der einzige prominente Besucher Kempens. Aus Schleswig-Holstein, aus Hamburg und Lübeck, aus Düsseldorf kommen nationalsozialistische Gauleiter mit Gefolge auf Truppenbesuch. Am 16. April hören die Kommandeure der Division im Rathaus einen Vortrag, den der nationalsozialistische Reichsleiter Alfred Rosenberg hält - heute noch berüchtigt als Chefideologe des Nationalsozialismus und als Kunsträuber größten Ausmaßes in den besetzten Ländern.

Am 10. Mai erfolgt der Aufbruch Richtung Niederlande: "Alarm!" Die in und um Kempen stationierten Truppen packen in aller Eile ihre Sachen. Am Spätnachmittag und am Abend rücken die Kolonnen feldmarschmäßig, das heißt mit voller Kampfausrüstung, über Mülhausen und Oedt Richtung Grenze ab. Erst fünf Jahre später - im März 1945, als die amerikanischen Truppen sich nähern - wird Kempen wieder deutsche Fronteinheiten auf dem Weg zum Einsatz erleben. Die aber haben mit der siegessicheren Wehrmacht von 1940 nicht mehr viel zu tun. Jetzt sind es zerlumpte und ausgepumpte Soldaten im Angesicht der sicheren Niederlage. Das letzte Aufgebot eines zu Ende gehenden Krieges, der für Kempen mit dem Einrücken der 30. Infanteriedivision begann.

In der nächsten Folge: Krankenhausbetten aus Kempen - Zur Gründung des Arnold-Werkes

(hk-)
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