Serie Vor 39 Jahren Eine kaputte Stadt wagt den Neuanfang

Kempen · Am Ende der 1950er-Jahre scheint auch die Kempener Altstadt am Ende; ihre Bausubstanz bröckelt. Zahlreiche Gebäude sind einsturzgefährdet. Verfallene Anbauten füllen die Innenhöfe, löchriges Ruckelpflaster bedeckt die engen Straßen; sie ersticken im Autoverkehr. Die Wohnungsnot ist bedrückend. Lärmende Handwerksbetriebe und Kleinfabriken, dazu sieben Bauernhöfe verstärkten den Eindruck des vorsintflutlichen, zerrissenen Stadtbildes.

 Kurz vor dem Ende der Kempener Altstadtsanierung 1981: Das Eckhaus Ölstraße/Heilig-Geist-Straße ist bereits abgerissen, das rechts benachbarte Fachwerkhaus wird ebenfalls noch abgebrochen.

Kurz vor dem Ende der Kempener Altstadtsanierung 1981: Das Eckhaus Ölstraße/Heilig-Geist-Straße ist bereits abgerissen, das rechts benachbarte Fachwerkhaus wird ebenfalls noch abgebrochen.

Foto: Stadtarchiv Kempen

Bereits 1961 stuft die Verwaltung die gesamte Innenstadt als erneuerungsbedürftiges Wohngebiet ein. Einzige Ausnahmen: Die Thomas- und die Franziskanerstraße. 1965 formulieren Rat und Verwaltung die Grundsätze der künftigen Sanierung: Wiederherstellung des historischen Ringmauer-Grundrisses; bauliche Erneuerung, aber Wahrung des Altstadtcharakters; Funktionsverbesserung für die Anforderungen der Zukunft.

 Am 24. März 1981 wird die Villa Herfeldt an der Ecke Rabenstraße/Donkwall abgerissen. Die Hauptschullehrerin Viktoria Müllenbusch bezieht mit einigen Schülerinnen eine Mahnwache auf dem Schuttberg.

Am 24. März 1981 wird die Villa Herfeldt an der Ecke Rabenstraße/Donkwall abgerissen. Die Hauptschullehrerin Viktoria Müllenbusch bezieht mit einigen Schülerinnen eine Mahnwache auf dem Schuttberg.

Foto: Königs

Motor der Sanierung wird Kempens damaliger Stadtdirektor Klaus Hülshoff, von 1960 bis 1990 im Amt und vor seiner Zeit in Kempen als Regierungsamtmann Leiter des Generalreferats für Verfassungsfragen im Bonner Innenministerium. Bereits 1963 gründet er einen Sanierungsbeirat, in den der gewiefte Taktiker Vertreter des Innenministers, des Regierungspräsidenten, des Oberkreisdirektors und des Landeskonservators aufnimmt. Bestens vernetzt nach Bonn und Düsseldorf, besorgt er viel Geld über kurze Drähte. 48 Millionen Mark öffentlicher Mittel ziehen allein bis 1990 an die 70 Millionen privater Investoren nach sich. Zahlreiche Eigentümer sanieren nun auf eigene Kosten ihre Häuser: Klosterstraße 10a, Schulstraße 18 und Tiefstraße 7, um nur drei Beispiele von vielen zu nennen.

Ende 1965 beauftragt die Stadt die jungen Essener Planer Peter und Marlene Zlonicky mit der Ausarbeitung eines Sanierungskonzepts. Auf dessen Grundlage erfolgt am 27. Juni 1968 der einstimmige Stadtratsbeschluss zur Erarbeitung der entsprechenden Bebauungspläne. Was aus heutiger Sicht zum Problem wird: Die zehn Bebauungspläne, die das städtische Planungsamt von 1968 bis 1980 entwickelt, gehen über die ursprünglichen Vorstellungen der Zlonickys weit hinaus.

Eine Zeitlang ist sogar beabsichtigt, den Ring vierspurig auszubauen. Das hätte eine radikale Abbruch-Schneise zur Folge gehabt, wird aber durch massiven Bürgerprotest verhindert. Nie habe er geplant, wird Peter Zlonicky 1981 sagen, zwei Sekanten mitten durch die Altstadt zu brechen, sondern lediglich, Parkplätze vom Ring aus erreichbar zu machen. Und diese Parkplätze sollten nicht über, sondern unter der Erde liegen - mit Spielplätzen drauf.

Während woanders die Vorstellung greift, auch nach 1900 errichtete Gebäude könnten denkmalwert sein, rollt in Kempen unbeirrt der Bagger. Konsequent hält der Rat an seinem Beschluss vom 27. Juni 1968 fest, die Altstadt zu "modernisieren". Zlonickys späterer Vorwurf an die Politik: "Wo bleibt die politische Verantwortung eines Rates, der ein Konzept nicht von Zeit zu Zeit darauf überprüft, ob es nicht den Zeitläufen neu angepasst werden muss?"

Warum hat damals die Stadt geglaubt, so schnell und radikal handeln zu müssen? Es ging ihr darum, das noch zur Verfügung stehende Geld abrufen zu können: "Wenn wir in drei Jahren nichts Fertiges vorlegen, fließen keine Mittel mehr!" sagt 1981 der Technische Beigeordnete Karlheinz Apitz. In der Tat treten kurz darauf neue Förder-Richtlinien in Kraft, die die staatlichen Zuschüsse knapper gemacht hätten - aber da war die Kempener Sanierung schon zum großen Teil abgeschlossen.

Durch den Zeitdruck scheint das Kempener Projekt vielen außer Kontrolle zu geraten, und dagegen regt sich Protest. Widerstand leisten die Arbeitskreise "Stadtbildpflege" (Ingrid Wolters und Dorle Reinartz) und "Bürger für Kempen" (Gudrun Jeske und Viktoria Müllenbusch). Aber von Verwaltung und Politik werden sie nicht ernst genommen. Ihre Aktivitäten bewirken nichts. Widerstand leisten die Bürger vor allem gegen den einstimmigen Ratsbeschluss vom 4. Mai 1978, den historischen Mauerring rund um Kempen zum Grüngürtel frei zu baggern. Das wird zum Abbruch zahlreicher Villen führen wie der Jugendstilhäuser am Moorenring (1980) oder der neubarocken Villa Herfeldt an der Rabenstraße Ecke Donkwall (1981). Darüber wird heute noch viel geschimpft, und das bedarf einer Erklärung.

Bereits 1969 hat ein Bebauungsplan Zlonickys Idee aufgegriffen, im Gebiet zwischen Ringstraße und Wall Platz für Parkanlagen zu schaffen. Das wird dann zum Kahlschlag erweitert. 1977 übernimmt die LEG, die Landesentwicklungsgesellschaft, die Kempener Sanierung. Sie befürwortet den Totalabbruch zwischen Wall und Ring, denn: "55 Prozent der Häuser hier sind überaltert, ihre Bewohner würden gerne wegziehen." Dafür stellt sie Fördergelder des Landes in Aussicht, und um die zu bekommen, besorgt die Stadt den dortigen Bewohnern andere Wohnungen und bricht ihre alten Häuser ab. Aber was geschieht mit den schönen Villen in diesem Bereich? Die müssten auch weg, erklärt für die SPD Joachim Nötting. Und begründet das mit sozialer Gerechtigkeit: "Vom kleinen Mann haben wir verlangt, dass er sein Haus im künftigen Grüngürtel aufgibt, das müssen wir jetzt auch von den wohlhabenden Eigentümern verlangen." Stehen bleiben dann nur das im Bauhaus-Stil errichtete Haus Dowe am Möhlenwall und die Sparkasse am Viehmarkt. Letztere, weil der Landeskonservator mithilfe des Denkmalschutzgesetzes vom 11. März 1980 ihren Abbruch verhindert. Hier waren schon die Bagger vorgefahren.

Weitere Abbruch-Sünden: das "Hotel Kellersohn" aus dem 17. Jahrhundert Ecke Studentenacker/Peterstraße. Seit 1973 steht hier das Weinhaus Straeten. Und die wilhelminische Post am Spülwall, abgerissen 1978. Vor allem aber: Das Jugendstil-Hohenzollernbad an der Burgstraße; 1974 weicht es der neuen Orsaystraße. Und Kempens ältestes, aus dem 15. Jahrhundert stammendes Fachwerkhaus Ecke Oelstraße/Josefstraße. Im März 1979 wird es dem Bau der Heilig-Geist-Straße geopfert. Sein Pech: Es ragt anderthalb Meter in den geplanten Straßenzug.

Insgesamt aber ist die Kempener Altstadtsanierung eine Erfolgsgeschichte. Doch der Weg dahin war mühsam und von Konflikten gezeichnet. Ein Beispiel: In der CDU-Fraktion gab es damals eine Gruppe von Einzelhändlern, fünf von 24 Fraktionsmitgliedern, die das Einkaufen per Auto propagierten. Im Streit um das weitere Zulassen von Parken auf dem Buttermarkt wäre die Fraktion fast zerbrochen.

Mehrfach mit Preisen ausgezeichnet, gilt Kempens Sanierung heute als Modellfall und ist Städten wie Remscheid, Bamberg und Münster zum Vorbild geworden. Den Menschen, die hier wohnen, gibt sie ein positives Lebensgefühl. Drei Tage lang, vom 21. bis zum 23. Mai 1982, feierten die Kempener das Jahrhundertwerk.

In der nächsten Folge: Stürme durchtoben das Kempener Land

(hk-)
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