Stolpersteine In Kempen (9) Emigriert - und doch ermordet

Kempen · Von 75 Juden gelangten 30 bis zum Krieg die Emigration. Vier von ihnen wurden, als die Wehrmacht ihre Fluchtländer besetzte, ermordet, darunter die Kinder Ilse Bruch und Liesel Mendel.

Um das Jahr 1935: Siegfried Mendel auf seinem Motorrad. Von uns aus gesehen rechts von ihm seine ältere Schwester Wilhelmine.

Um das Jahr 1935: Siegfried Mendel auf seinem Motorrad. Von uns aus gesehen rechts von ihm seine ältere Schwester Wilhelmine.

Foto: Ruth Baum

Die Auswanderungspolitik der Nazis war paradox. Einerseits wurde mit allen Mitteln auf die Juden Druck zum Auswandern ausgeübt, andererseits wurde ihnen die Ausreise durch zahlreiche Abgaben und Auflagen erschwert. Einige Beispiele: Juden, die emigrierten, durften keine deutschen Devisen und keine Wertsachen mitnehmen. Zur Ausfuhr war ihnen nur ausländische Währung im Wert von zehn Deutschen Mark oder etwas über zwei US-Dollar pro Person erlaubt. Eine "Auswandererabgabe" machte sie praktisch mittellos.

Mirjam Honig wurde als letzte heute noch lebende Jüdin aus Kempen vor 70 Jahren im niederländischen Sevenum von schottischen Soldaten befreit.

Mirjam Honig wurde als letzte heute noch lebende Jüdin aus Kempen vor 70 Jahren im niederländischen Sevenum von schottischen Soldaten befreit.

Foto: Hans Kaiser

Im Juli 1933 hat der Kempener Anwalt und Notar Dr. Karl Winter seinen Beruf aufgeben müssen. Er weiß nicht, wie er seine Familie durchbringen soll, versucht, Krawatten zu verkaufen, aber der Wandergewerbeschein wird ihm vom Kempener Ordnungsamt bald entzogen. Da versucht der Jurist sein Glück als Schlipsvertreter jenseits der holländischen Grenze, knüpft auf diese Weise lebensrettende Kontakte.

Nachdem 1935 die Nürnberger Rassegesetze verkündet worden sind, kommt es auch in Kempen zu neuen Schikanen. Seit 1931 haben die Winters vom Kempener Gymnasium Thomaeum dessen frühere Direktorswohnung angemietet - in der heutigen Alten Wache, Kerkener Straße 1. Nun fragt der Schulleiter, Dr. Josef Bast, bei der Regierung an, ob "dem Juden" nicht gekündigt werden müsse. Aber da die Wohnung sich in einem desolaten Zustand befindet, wird zunächst von einer Kündigung abgesehen. Als 1937 sein Gymnasium zu einer "Deutschen Oberschule" herabgestuft wird, entwickelt Bast sich allerdings zu einem erbitterten Nazi-Gegner, nimmt kein Blatt mehr vor den Mund.

In Kempen wird die Familie Winter nun behandelt wie Aussätzige. Ihre Töchter Mirjam und Ruth müssen in der Schule allein sitzen, zum Schwimmen ins Hohenzollernbad/Burgstraße dürfen sie nicht mehr. Dort hängt jetzt ein Schild: "Zutritt für Juden verboten!" und ebenso vor den Spielplätzen und am Burgpark.

Als Vorsteher der Synagogengemeinde ahnt Dr. Winter die kommende Entwicklung. So entschließt er sich zur Emigration in die Niederlande, zunächst nach Venlo, dann, da ihm die deutsche Grenze zu nahe ist, nach Eindhoven. Als am 10. November 1938, während der sogenannten "Kristallnacht", seinem 93jährigen Vater Simon Winter in Kempen die Wohnungseinrichtung Ellenstraße 5 demoliert und der alte Mann zu Boden geschlagen wird, so dass er im Gesicht blutige Wunden erleidet, holt er ihn nach. In Amsterdam stirbt Simon Winter zwei Jahre später in einem jüdischen Altenheim.

Im Mai 1940 besetzt die deutsche Wehrmacht das neutrale Land, im Juli 1942 beginnt die Deportation in das Vernichtungslager Auschwitz. Die Winters werden einzeln vom niederländischen Widerstand versteckt und im November 1944 von den Alliierten befreit. Sie sind mit dem Leben davongekommen.

Andere nicht - wie Siegfried Mendel (32) geboren in St. Hubert. Kurz vor der Pogromnacht, am 5. Oktober 1938, ist er emigriert. Er hat vorher in Aldekerk gewohnt, wo er für die Fleischwaren- und Konservenfabrik Kleinbongartz arbeitete und schließlich aufgrund der Nürnberger Rassegesetze entlassen wurde. Dann ist er wieder zu seiner älteren Schwester Wilhelmine nach St. Hubert, Hindenburgstraße (heute wieder: Hauptstraße) 39 gezogen. Aber er will arbeiten, meldet im Januar 1936 ein Viehhandelsgeschäft an. 3000 Mark, die er für die Emigration noch braucht, leiht sich seine Schwester Wilhelmine und gibt sie ihm. Sie selbst ist so krank, dass sie in Deutschland bleibt.

Im Oktober 1938 geht Siegfried Mendel zunächst zu Bekannten nach Eelen bei Maaseyk/Belgien. Als er dort Fuß gefasst hat, schickt Wilhelmine ihm das Nötigste nach: Unterhemden, Bettbezüge, ein Bügeleisen, eine Nähmaschine; alles gebrauchte, alte Sachen. Vor dem Einmarsch der deutschen Truppen 1940 flieht Siegfried Mendel weiter nach Südfrankreich, wo die französische Polizei ihn 1942 im Auftrag der Gestapo verhaftet. Mit einem Transport von etwa 1000 Juden wird er am 7. September 1942 auf den Weg nach Auschwitz gebracht. Dort hat man ihn in die Gaskammer getrieben. Hausgenosse der Geschwister Mendel war der ledige Ernst Anschel aus Polch bei Koblenz. Wie Siegfried Mendel hat er bei Kleinbongartz in Aldekerk gearbeitet, ist als Jude entlassen worden. Er weiß nicht, wohin und kommt im Mai 1937 bei seinem Freund Siegfried in St. Hubert unter. Zuletzt schlägt er sich als Pferdehändler durch. Anschel wird wie alle männlichen Juden Kempens am 10. November 1938 im Zuge der "Reichskristallnacht" verhaftet und nach Dachau ins KZ gebracht. Erst am 12. Januar 1939 entlässt die SS ihn aus der sogenannten Schutzhaft; am 1. Februar meldet er sich nach Lüttich ab. Aber dann schickt sich die Wehrmacht an, im Laufe des "Westfeldzugs" nach Holland auch in Belgien einzumarschieren. Anschel flieht nach Frankreich, wird verhaftet und deportiert und kommt am 8. Januar 1943 in Auschwitz um.

(hk-)
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