Serie Kampf, Kapitulation, Kriegsende (3) Gefechte um Haus Heimendahl

Kempen · Vor 70 Jahren ging in unserer Region der Zweite Weltkrieg zu Ende. In einer vierteiligen Serie schildert die RP die Besetzung der einzelnen Orte. Heute geht es auf der Basis der amerikanischen Gefechtsberichte die letzten Kämpfe um Kempen.

 Hans Heckmann beobachtete aus einem Dachfenster das Gefecht an der Vorster Straße.

Hans Heckmann beobachtete aus einem Dachfenster das Gefecht an der Vorster Straße.

Foto: Heckmann

KEMPEN Am 2. März 1945 sind trotz Luftangriffen und Artilleriebeschuss noch ungefähr 500 Menschen in Kempen geblieben, hocken in den Kellern. "Wann kommen die Amerikaner?", fragen sie sich. Um 16.30 Uhr ist es soweit: Auf der Oedter Landstraße erreichen sechs Panzer Sherman M 4, in ihrer Deckung Infanterie, den Judenfriedhof. Unter dem Beschuss der US-Tanks flüchten deutsche Soldaten, Angehörige der Versorgungskompanie der 7. Fallschirmdivision, Richtung Stadt. Wo die heutige Oedter Straße in den Kamperlingsweg übergeht, am "Plänksken" über den Fliethgraben, werden Tage später Passanten eine Feldmütze finden, in der noch der Rest einer Schädeldecke steckt.

In Kamperlings durchsuchen die GIs die Häuser nach Landsern, töten den Fräser Karl Heinz Werner (33) durch einen Schuss in den Hals. Als die Panzer Richtung Stadt vorrücken, treffen sie auf Verteidiger, die in Deckung liegen und schießen. Da weichen die Sherman wieder nach Kamperlings zurück, bleiben über Nacht hier. Die verwinkelten Straßen der Altstadt bieten ein hervorragendes Aktionsfeld für die gefürchteten deutschen Panzerfäuste.

Am nächsten Tag, so plant die 84. US-Infanteriedivision, soll das Regiment 333 über die Kempener Ringstraße nach Hüls durchstoßen. Wie stark wird die deutsche Abwehr sein? Eine schnell bewegliche Aufklärungseinheit, die 36. US-Kavallerie-Schwadron, dringt an der Vorster Straße zum Stadtrand vor. "Dort wurden sie von deutschen Soldaten beschossen, die hinter den Mauern der Vorgärten lagen", hat der 2010 verstorbene Hans Heckmann berichtet, damals 17 Jahre alter Soldat und auf Heimaturlaub. Im heftigen Infanteriefeuer aus kurzer Entfernung riskieren Sergeant Waer und Lieutenant Gould ihr Leben, um verwundete Kameraden zu bergen. Aber der Widerstand lässt bald nach. Die Aufklärer stellen fest, dass die Stadt faktisch unbesetzt ist, und kehren auf ihren Halbkettenfahrzeugen um, wie es ihrer vorsichtigen Taktik kurz vor Kriegsende entspricht.

Währenddessen hat eine andere Kampfgruppe, langsam vorgehend, Stiegerheide und St. Peter eingenommen, immer wieder aufgehalten von Maschinengewehrgarben deutscher Fallschirmjäger. Die Elitetruppe weicht teilweise nur unter Granatwerferbbeschuss zurück. In der Dämmerung werden die in St. Peter eingedrungenen Amerikaner von einem deutschen Panzer unter Beschuss genommen, der etwa 400 Meter stadteinwärts im Feld steht. Da sind also wohl noch deutsche Verteidiger im Süden der Stadt! Die könnten während der Nacht versuchen, St. Peter zurückzuerobern. Also rückt ein Teil des 2. US-Bataillons auf das Wäldchen bei Haus Bockdorf vor, wo sich Deutsche bereit halten könnten.

Als die Schützenreihe sich dem Haus An Trötschkes 3 nähert, sehen die Amerikaner in der geöffneten Tür die 32 Jahre alte Magdalene Heckes stehen. Sie hat ihren Sohn Günter losgeschickt, um beim Bauern Johann Holthausen gegenüber Milch zu holen, und hält nun nach ihm Ausschau. Der Kälte wegen trägt sie einen deutschen Soldatenmantel. Die GIs halten sie für einen Soldaten, schießen auf sie und verletzen sie so schwer, dass sie am nächsten Morgen um fünf stirbt. Ihr Grab liegt auf dem Ehrenteil des Kempener Friedhofs.

Anlaufpunkt der vorrückenden Truppe ist ein eisernes Tor an der anderen Seite des Krefelder Wegs. Als die Amerikaner hindurchgegangen sind, als der Wald sich weitet und sie wieder nach links schwenken, merken sie, dass sie in einer Falle stecken: Von links werden sie aus drei Richtungen von Maschinengewehren beschossen. Auf einem Rübenfeld werfen die GIs sich hin, haben Tote und Verwundete. Erst als amerikanische Granatwerfer den deutschen Hinterhalt unter Feuer nehmen, gelingt es den GIs, Richtung St. Peter zurück zu erobern.

Die Kämpfe im Süden der Stadt waren verlustreich für die Deutschen. Am nächsten Tag, dem 3. März, wird das 75. US-Sanitätsbataillon in den Bauernschaften 49 Verwundete aufsammeln, viele davon schwer verletzt. An der Unterweidener Gastwirtschaft "Kronen Bella" am Bahnweg, etwa 100 Meter auf Kempen zu, waren noch einige Zeit nach dem Krieg vier deutsche Soldatengräber zu sehen.

In der Morgendämmerung des 3. März betritt aus Kamperlings die erste Infanterieabteilung den Markt, besetzt konzentrisch die Stadt. Der Artilleriebeschuss hat aufgehört. "Auf einmal war es ganz still", hat sich die 1996 verstorbene Antonie Richard, damals 28 Jahre alt, erinnert. Die junge Frau steigt aus ihrem Keller an der Engerstraße nach oben - und sieht, wie am Straßenende im Kirchgässchen olivgrüne Uniformen, Helme und Gewehre auftauchen.

In diesem Moment nähern sich vier Männer von der Burg her der Engerstraße: Es sind Propst Wilhelm Oehmen, Bürgermeister Dr. Mertens, der Verleger Karl-Wilhelm Engels (als Dolmetscher) und Bruno Oel, Küster und Organist an der Propsteikirche. Außer Oel, der ein Bettlaken als weiße Fahne trägt, haben sie die Hände über den Kopf gehoben. An der Ecke Burg-/Engerstraße treffen sie auf die Amerikaner - und Engels übersetzt die Übergabeerklärung des Bürgermeisters.

Zwischen neun und zehn Uhr rollt eine unendlich scheinende Kette von Sherman-Tanks, Jeeps und Soldaten auf Lkw aus Oedt und Mülhausen über den Kempener Ring. Die mühsam angelegten Hindernisse werden ruck zuck überwunden und gesprengt. Am Eingang zur Stadt kommt den Amerikanern der Kempener Kaplan Heinrich Hastenrath, dessen rechtes Bein von der Kinderlähmung gelähmt ist, unerschrocken auf seinem Fahrrad entgegen. Er will nachsehen, ob an der Mülhauser Straße verwundete deutsche Soldaten liegen. Am Eingang zur Hülser Straße schlägt den US-Truppen zum letzten Mal Feuer aus deutschen Maschinenpistolen entgegen.

Die Kempener Feuerwehrleute haben zwei Tage und Nächte in Bereitschaft ohne Verpflegung im Keller des Mädchengymnasiums gegenüber der Burg gelegen. Jetzt, als der Kampflärm zu Ende ist, kommen sie in ihren Uniformen aus dem Untergrund hoch und machen sich auf in die Stadt. Als sie auf der Vorster Straße zur Bäckerei Gerfertz wollen, um endlich was zu essen zu kriegen, kommen zwei amerikanische Lkw angefahren. Ein Offizier klettert aus einem Fahrerhaus, hält ihnen seine Pistole vors Gesicht. Er nimmt die Wehrleute und Günter Zerwes, einen jungen Mann, der an der Vorster Straße wohnt, gefangen. Da tritt der Kaplan Hastenrath aus seiner Wohnung Vorster Straße 7. Sein geistliches Gewand beeindruckt die Amerikaner; dazu kommen seine englischen Sprachkenntnisse. So erreicht er die Freilassung von Zerwes. "Und wir, Herr Kaplan?" fragen ihn da die Feuerwehrleute. Und Hastenrath erwirkt, dass auch sie gehen können. Überall in der Stadt gehen deutsche Soldaten in Gefangenschaft.

Dann, beim weiteren Vorrollen, kommt es zu einem grotesken Missverständnis. Der große Luftschutzkeller unter dem Kramer-Museum und der Paterskirche ist gedrängt voll mit Menschen, die hier die Ankunft der US-Truppen erwarten. Die Amerikaner halten die verwüstete Grünanlage vor der Burg für den Marktplatz und die Paterskirche für die Kirche der Stadt. "Die Marschkolonne donnerte durch die Straßen der Innenstadt auf den Platz an der Kirche zu, wo gerade ein Gottesdienst abgehalten wurde", meldet die Geschichte der 83. US-Division. "Beim Vorbeifahren der Kolonne kamen sämtliche Gottesdienstbesucher aus dem Kirchentor, knieten auf den Stufen nieder und winkten mit allem, was von Taschentüchern bis hin zu Laken an weißen Fähnchen zu finden war." Die Menschen aus dem Luftschutzkeller sind in der Paterskirche durch eine Luke hochgekommen und ergeben sich nun, teils vor dem Kirchenportal, teils auf den Stufen des Parlatoriums des Franziskanerklosters, der eindrucksvollen Streitmacht. Sie bitten um Frieden.

(hk-)
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