Stadt Kempen Kempener Flüchtlingsschicksale

Stadt Kempen · Mehr als 600 Flüchtlinge sind zurzeit in Kempen untergekommen - in öffentlichen Gebäuden, in Quartieren und Wohnungen, die die Stadt angemietet hat. Wie leben diese Menschen, was haben sie hinter sich?

Stadt Kempen: Kempener Flüchtlingsschicksale
Foto: Hans Kaiser

Hier ist die Welt in Ordnung - nach Gefahr, Angst und Flucht. Die Bewohner der kleinen Gemeinschaft werden von Ehrenamtlern der Propsteigemeinde engagiert betreut. Die Küche ist schlicht, aber gut ausgestattet mit Kühlschränken, Elektroherden, Hängeschränken. Alles ist sauber. Da sitzen sie und essen, was sie von ihrer Geldleistung - an die 325 Euro im Monat - eingekauft und zubereitet haben: Esper, Kendy Ahmad und Riad Khalil aus Syrien; Ali aus dem Irak. Ein Zahntechniker, ein Betriebswirtschaftler, der mittlerweile als Traktorenmechaniker arbeitet; ein Schweißer, ein Journalist. Reis in Tomatensauce ist auf den Tellern, Salat und Hackfleisch. Als wir hereinkommen, bieten sie uns Kaffee an, schütteln die Hand, legen nach orientalischer Sitte die Hand aufs Herz.

Vier Männer, vier Schicksale, und sie könnten eine Zeitungsseite füllen. Hier die Geschichte von Ali aus dem Irak: Seit 1996 hat er in Bagdad sein Geld als freier Mitarbeiter bei der Tageszeitung Al-Bayna (zu deutsch: "Der klare Beweis"), dem Sprachrohr der Schiiten-Partei, verdient, hat für deren Politik- und Wirtschaftsteil geschrieben. Bis 2014 der Islamische Staat den Terror in die Hauptstadt trug. Die Fanatiker-Gruppierung, voller Hass auf die Schiiten, entführte Alis Zwillingsbruder Omar, den sie für Ali hielt, und richtete ihn hin.

Der Zeitungsmann wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte, aus dem Land zu kommen. Er hob sein Geld ab, packte Kleidung und Lebensmittel in einen Karton. Ein Freund fuhr ihn zur türkischen Grenze, die er durch ein Schlupfloch passierte. Auch in der Türkei musste er vor dem IS um sein Leben fürchten, und so zahlte er 13 000 Dollar, damit ein Lastwagen ihn mit auf die riskante Reise nach Deutschland nahm. Im Juli 2015 kam er nach sieben Tagen Fahrt in Hannover an, übernachtete in Bielefeld bei einem Freund, ließ sich dort registrieren und wurde nach Kempen gebracht.

Wie alle Bewohner hier brennt er darauf, in Deutschland zu arbeiten - am liebsten mit Menschen. Als Pfleger im Krankenhaus oder im Altenheim oder als Helfer bei der Kirche. Erster Schritt ist jetzt ein Deutschkursus für Anfänger zweimal die Woche im Katholischen Gemeindezentrum am Concordienplatz. Ali wirkt bedrückt, denn er hat Angst um seine Frau und die zwei Kinder, die in Bagdad geblieben sind. Deshalb möchte er auch kein Foto von sich in der Zeitung haben.

Flüchtlinge: Große Hilfsbereitschaft in Dortmund
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Große Hilfsbereitschaft am Dortmunder Hauptbahnhof

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Foto: dpa, mjh

Kempener Migrantenschicksale wie diese gibt es zuhauf, man muss mit den Menschen nur ins Gespräch kommen. Wie das des jungen Syrers Majed aus Palästina, dessen Abschiebung aus Voesch nach Ungarn Dr. Michael Stoffels, Mitglied des Arbeitskreises Asyl und Menschenrechte, in letzter Minute, aber nur vorläufig mithilfe eines Anwalts verhindern konnte. Was zeigt, wie wichtig es für Migranten ist, auf eine qualifizierte Beratung zu stoßen.

Für den 15. September war die Überstellung des jungen Mannes vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zur Abschiebung an das Ausländeramt des Kreises Viersen vorgesehen; in ein Land, dessen Regierungschef ausdrücklich erklärt hat, er wolle keine Muslime aufnehmen. Stoffels: "Aber es geht ums Prinzip. Deutschland will die längst gescheiterte Dublin-Vereinbarung von 1990 aufrechterhalten (Danach muss der Staat, in den der Asylbewerber nachweislich zuerst eingereist ist, das Asylverfahren durchführen. Red.). Diese unselige Vereinbarung, auf der inzwischen zwei Drittel aller Abschiebungen beruhen, soll Thema des nächsten Treffens des Asylkreises im Oktober sein." Rückendeckung gab dem unter starker Belastung stehenden Syrer die Evangelische Kirchengemeinde in Kempen. Sie lud ihn und Stoffels zur Information in eine Presbyteriumssitzung ein und versprach, sich gegebenenfalls mit allen Mitteln für ihn einzusetzen.

Oder da ist das Schicksal des 18-jährigen Nigerianers, das Maria Weihrauch-Disselkamp, engagierte Mitarbeiterin der Katholischen Kirchengemeinde, aus dessen Aufzeichnungen ins Deutsche übersetzt hat. Mit seiner Mutter war der Junge nach Libyen gegangen, um dort Arbeit zu finden. Aus Angst vor Repressalien gegenüber der Mutter, die noch dort ist, möchte er seinen Namen nicht genannt haben.

Dann brach der Bürgerkrieg aus, und 2013 wurde der Nigerianer von Soldaten mit anderen in ein Boot gesetzt. Der marode Kahn brauchte sechs Tage bis zur italienischen Insel Lampedusa, von wo er für eineinhalb Jahre in das Flüchtlingslager Mineo kam, damals einem der größten in Europa: "Ein großes Lager mit 4000 Leuten. Morgens gab es nur etwas zu trinken, mittags und abends gab es nur Brot und Reis." Mit geliehenem Geld gelang die Fahrt nach Frankfurt, wo er sich bei der Polizei meldete.

Heute besucht der junge Mann die St. Töniser Außenstelle des Berufskollegs und dort eine spezielle Förderklasse. Nach wie vor wohnt er mit anderen Migranten in Kempen, spielt Fußball beim SV Thomasstadt, der auch andere junge Flüchtlinge aufgenommen hat. "Eine schöne Stadt", sagt er. "Die Leute sind freundlich. Seit zwei Monaten lerne ich zweimal in der Woche Deutsch. Ich hoffe, ich kann in Deutschland bleiben. Ich möchte so gerne in die Schule gehen und einen Beruf lernen." Nur bedrückt ihn, dass er keinen Kontakt mehr zur Mutter in Libyen hat.

(hk-)
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