Kempen Krefeld 1920: Kaderschmiede für die Moderne

Kempen · Die bewegten Jahre zwischen den Weltkriegen spiegelt die Krefelder Architektur. Hier wirkten Stararchitekten der Avantgarde und Heimat-Stilisten, hier trafen sich alle Ideen für modernes Wohnen und Bauen. Bis heute bestimmen Bau-Ideen dieser Zeit das Stadtbild

 Auf der Schwelle zur Moderne: Das belgische Viertel ist teils detailverliebt (Foto links und 2.v.l.), ohne sich von überkommenem Bauen zu lösen; das Haus am Vlyner Platz ist ein Beispiel für die Krefelder Backsteingotik; Fassade und viele Elemente wirken verspielt (3. Foto v.l.). Rechts das Poelzig-Haus, das formal neue Wege sucht und dabei auch organische Formen zitiert. Erst das erste Bauhaus-Haus in Krefeld (Foto unten) zeigt eine wirklich neue Ära an.

Auf der Schwelle zur Moderne: Das belgische Viertel ist teils detailverliebt (Foto links und 2.v.l.), ohne sich von überkommenem Bauen zu lösen; das Haus am Vlyner Platz ist ein Beispiel für die Krefelder Backsteingotik; Fassade und viele Elemente wirken verspielt (3. Foto v.l.). Rechts das Poelzig-Haus, das formal neue Wege sucht und dabei auch organische Formen zitiert. Erst das erste Bauhaus-Haus in Krefeld (Foto unten) zeigt eine wirklich neue Ära an.

Foto: Thomas Lammertz (3) / RP-Archiv (1): Lammertz

Wer heute eine Wohnung sucht, der hat eine ungefähre Vorstellung davon, was ihn erwartet, wenn "Moderner Neubau, 4 ZKDB, Rheinnähe, Südblk., TG-Stellplatz" angeboten ist: Offene Räume, große Fenster, viel Licht. Vor rund 100 Jahren sah der Immobilienmarkt ganz anders aus. Da war meist nur roter Backstein bei Neubauten gesetzt - für den Niederrhein das typischste Baumaterial. Aber stilistisch war die Bandbreite groß: von Bauhaus über die gemäßigte Moderne bis zum Heimatstil lebten Architekten ihre künstlerischen Ansprüche aus. In Krefeld sind alle Strömungen noch heute nachvollziehbar. Damit hat die Stadt eine herausragende Position in der Architekturgeschichte der Moderne.

 Das erste Bauhaus-Zeugnis in Krefeld war das Haus Feubel an der Uerdinger Straße. Es entstand im gleichen Jahr wie die Villa Lange; entworfen wurde es vom Krefelder Architekten Ernst Schäfer.

Das erste Bauhaus-Zeugnis in Krefeld war das Haus Feubel an der Uerdinger Straße. Es entstand im gleichen Jahr wie die Villa Lange; entworfen wurde es vom Krefelder Architekten Ernst Schäfer.

Foto: Dautermann

Im April 1922 bot die Stadt 90 Ein- und Mehrfamilienhäuser zum Kauf an: "An jedes Haus schließt sich ein Hausgarten an, der 200 bis 900, in den meisten Fällen 400 Quadratmeter groß ist", heißt es in einer ausführlichen Zeitungsanzeige, die in der Krefelder Stadtgeschichte verbrieft ist. Als Extras wurden ein Stall für "Ziegen, Schweine, Hühner, Kaninchen und dergleichen Kleinvieh" sowie eine Düngergrube, ein Speicher für Futtervorrat und bei manchen Häusern auch ein 16 Quadratmeter großes Ladenlokal angekündigt. Gesucht wurden Familien für die neu entstandene Siedlung Ritterstraße.

Kempen: Krefeld 1920: Kaderschmiede für die Moderne
Foto: Lammertz Thomas

Das markante Backsteintor, das den Zugang zu dem von Franz Lorscheidt errichteten Quartier bildete, ist noch immer ein Blickfang im Straßenbild. Ziegen und Schafe sind allerdings längst verschwunden, Kaninchen sind heute Haustiere mit Familienanschluss. Die Häuser haben ihren Charakter von damals noch erhalten, wenn auch viele Fassaden durch neue Fenster und Haustüren sowie individuelle Farbgebungen heute die einheitliche Form der Siedlung aufgebrochen haben. Gleiches gilt auch für die zahlreichen anderen Siedlungen, die in den 1920er-Jahren entstanden. "Siedlungsbau" war eine Idee des modernen Wohnens, die ab den Dreißiger Jahren die Nationalsozialisten vorantrieben. Die starke Steigerung des Wohnraumangebots - vor allem für Arbeiter - reklamierten sie als eine ihrer wichtigsten kommunalpolitischen Leistungen in Krefeld. Dabei war Krefeld bereits 1919 Vorreiter beim Bau von Straßenzügen und -vierteln, die Familien von verschiedenen Berufsgruppen bezahlbaren Wohnraum boten.

Kempen: Krefeld 1920: Kaderschmiede für die Moderne
Foto: Lammertz Thomas

Ein frühes Beispiel entstand direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Die Belgier besetzten Krefeld - und die Soldaten mussten untergebracht werden. Einige Baracken - wie an der Kempener Allee - gibt es nicht mehr, andere Häuser wie im sogenannten Belgischen Viertel um Von-Steuben- und Tenderingsstraße sind heute beliebte Wohngegenden.

Kempen: Krefeld 1920: Kaderschmiede für die Moderne
Foto: Lammertz Thomas

Zwischen 1919 und 1932 war der Siedlungsbau weitaus reger als von 1933 bis 1945. Die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen waren eine Zeit des Wachstums. Fast ein Viertel der Bebauung Krefelds entstand in jener Spanne. Fabrikanten ließen sich einen repräsentativen Familiensitz bauen oder funktionale Wohnungen für ihre Arbeiter errichten. Ein Beamtenbauverein gab in Lindental eine Siedlung in Auftrag, wo Beamte von Stadt, Eisenbahn, Post und Zoll die "reine Luft" genießen sollten. So vielfältig wie die Bauherren waren die Stile der Neubauten. Die Stadt wurde zum Schmelztiegel der Vorstellungen von modernem Wohnen im Lande. Sie war die Kaderschmiede für Baumeister wie Franz Lorscheidt, August Biebricher und Karl Buschhüter, die sich in Krefeld niederließen und entscheidend das Stadtbild prägten. Aber sie lockte auch die Stars der Avantgarde.

Der Seidenfabrikant Hermann Lange hatte vermutlich in Berlin Ludwig Mies van der Rohe kennengelernt, einen der wichtigsten Vertreter der Bauhaus-Schule. Von dessen Verständnis von Material und Funktionalität, von Raum und Natur begeistert, holte er ihn 1928 nach Krefeld, um an der Wilhelmshofallee eine Stadtvilla zu bauen. Das Nachbarhaus für die Familie Esters und das Verwaltungsgebäude der Verseidag gingen ebenfalls in Auftrag. Die heute als Museen genutzten Stadtvillen sind weltweit als Bauhaus-Denkmale bekannt.

Das erste Bauhaus-Zeugnis in Krefeld waren sie nicht. Das war das Haus Feubel an der Uerdinger Straße, das im gleiche Jahr entstand wie die Villa Lange, aber früher fertiggestellt wurde - von einem Krefelder Architekten: Ernst Schäfer. An den Ruhm von Mies kam der Krefelder nicht heran. Wenig ist heute noch von ihm bekannt. Schäfer (1891-1985) war ein Schulkamerad des Malers Heinrich Campendonk und führte von 1928 bis 1937 ein gemeinsames Architekturbüro mit Josef Stumm. Nach dem Krieg wirkte er beim Wiederaufbau von Friedens- und Lutherkirche. Seine Interpretation des Backsteinbaus an der Uerdinger Straße wurde als revolutionär empfunden. Er zelebrierte den Kubus mit einer vorher nicht gesehenen Konsequenz. Strenge Symmetrie, Fenster, die sich der schlichten Fassade unterordnen, und die Flachdächer waren damals spektakulär. Doch nicht alle Krefelder konnten mit der Formensprache des Minimalismus etwas anfangen. Man schätzte Gediegenheit. Und selbst der Backstein wurde mit spitzwinkligen Fenstern oder diagonalem Einsatz zum vielseitigen Gestaltungselement. Weiche Walmdächer, sanfte Linien, Häuserfronten, die schon von außen Heimeligkeit versprechen, waren ganz nach dem Geschmack der breiten Menge.

Der Industrielle Fritz Steiner verpflichtete Hans Poelzig, Vorsitzender des Deutschen Werkbundes, aus Berlin. An der Kliedbruchstraße baute er ein Paradebeispiel für den Architektur-Expressionismus. Die Backsteinfassade wird bestimmt von weichen, fließenden Linien. Auch im Inneren sind harmonische Formen bestimmend, rund und sanft, statt achsig und streng. Dieses Haus zählt heute zu den besterhaltenen Zeugnissen Poelzigs. Die meisten seiner Bauwerke haben den Krieg und die Abriss-Stimmung in den 50er- und 60er-Jahren nicht überstanden. Noch ein Alleinstellungsmerkmal Krefelds.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort