Interview: Serie Stolpersteine In Kempen (4) Künstler Wingen verhungert im KZ

Kempen · Der Autodidakt Fritz Wingen hatte sein Atelier in der Heilig-Geist-Kapelle. Den meisten Kempenern ist der Maler zu modern. In der Nazi-Zeit eckt er an, weil er gern provoziert. Er wird wiederholt verhaftet und verhört. 1944 stirbt er in Lublin.

 Fritz Wingen, selbstbewusst lächelnd mit seinem Arbeitsgerät, in den frühen Dreißigerjahren in Berlin.

Fritz Wingen, selbstbewusst lächelnd mit seinem Arbeitsgerät, in den frühen Dreißigerjahren in Berlin.

Foto: kordt

kempen Fritz Wingen, 1889 als ältester Sohn eines Lehrers in Westfalen geboren, war eigenwillig und in vielerlei Hinsicht hoch begabt. 1908 kam er mit seiner Familie nach Kempen, wo er das Lehrerseminar besuchte, das er mit Auszeichnung bestand. Als Lehrer, zuletzt in Neuwerk, entwickelte er kreative Unterrichtsmethoden und setzte sie erfolgreich ein. Aber bei der konservativen Schulbehörde eckte er mit seinen fortschrittlichen Konzepten an. Daher arbeitete er seit 1921 als freier Künstler.

Noch während seiner Zeit als Lehrer haben die Eltern ihm in ihrem Haus Siegfriedstraße 16 ein Zimmerchen als eigenes Atelier zur Verfügung gestellt. Hierhin kann er sich während seiner Aufenthalte in Kempen zurückziehen, um ungestört zu arbeiten. Aber es ist ihm bald nicht ungestört und groß genug. So mietet er sich eine Zeitlang einen Atelier-Raum in der Heilig-Geist-Kapelle am Markt. Hier bringt Wingen, der Autodidakt ist, für seine Studien seine umfangreiche Bibliothek und seine Bildersammlung unter. Tief religiös, malt er gerne Kirchenräume aus - in Kempen 1924 die Kapelle des Knabenkonvikts (des späteren Lyzeums gegenüber der Burg). Aber in der konservativen Stadt hält man nicht viel von seinem eigenwilligen, unorthodoxen Stil. Den meisten ist Wingen zu modern, zu abstrakt. Woanders ist er erfolgreich, erhält Kunstpreise und gewinnt bei wirklichen Kennern einen hohen Ruf als begnadeter Zeichner und Aquarellist, Maler, Bildhauer und Komponist zahlreicher Messen. Schwerpunkt seines Schaffens wird schließlich Berlin. Lange nach seinem Tod erst wird in Kempen eine Straße nach Wingen benannt werden.

Fritz Wingen ist ein eigenwilliger Mensch und furchtlos. Mit der Politik hat er nicht viel am Hut. Nachdem die Nazis 1933 an die Macht gekommen sind, wird ihm sein ganz privates Verhalten zum Verhängnis - aber Privates gibt es im Dritten Reich nicht mehr. Wingen setzt sich für Verfolgte ein, provoziert gerne, wo er Lächerliches sieht. In Berlin denunziert ihn eine seiner Zimmerwirtinnen, weil er ein Hitlerbild aus seinem Zimmer entfernt hat; bei einem anderen Bild übermalt er das Gesicht des "Führers". Wenn er sich in Kempen ungehemmt äußert, schwitzt seine Familie Blut und Wasser. Wiederholt wird Wingen verhaftet und verhört.

Ins Bild eines nationalsozialistischen Künstlers, der linientreue, "völkische Kunst" produzieren soll, passt er nicht. Am 9. Juni 1939 wird der Kempener aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen. Jede weitere künstlerische Arbeit ist ihm jetzt untersagt. Nun steht er auf der Schwelle zum Zuchthaus - und weiß es nicht. Am 28. Februar 1940 fordert die Gestapo den Kempener Landrat Odenthal auf, zu kontrollieren, ob Wingen sich auch an das Berufsverbot halte, und sie möchte noch mehr: "Auch bitte ich, ihn in geeigneter Weise zu überwachen". Aber die Spitzel finden nichts Berichtenswertes. Dann findet sich der Anlass doch. Noch im selben Jahr gerät der temperamentvolle Künstler auf der Rückreise von Linz a. d. Donau nach Berlin im Zug in eine politische Diskussion mit einem Mitreisenden, der sich dann als SS-Mann ausweist und ihn verhaften lässt.

Zunächst ist Fritz Wingen im Zuchthaus Plötzensee in Berlin inhaftiert; dort, wo man 1944 auf persönlichen Befehl Hitlers die Verschwörer des 20. Juli an Fleischerhaken aufhängen wird. Dann wird er in das KZ Sachsenhausen bei Oranienburg überstellt. Seine Verwandten, die ihn im Oktober 1941 besuchen wollen, bekommen ihn schon nicht mehr zu sehen. Kurz darauf wird Wingen nach Polen in das Konzentrationslager Lublin verlegt. Von dort schreibt er noch seiner Mutter, es gehe ihm elend, er sei krank. Berta Wingen wendet sich an das Propagandaministerium in Berlin, bittet um Gnade. Das Gesuch wird abgelehnt.

Bis zuletzt ist der Kempener seiner Berufung als Künstler gefolgt. Aus Resten von abgelegten Kleidungs- und Uniformstücken, aus ausgezupften Fäden klebt er (mit einem Klebstoff, den er aus Kartoffel-Resten hergestellt hat) eine Fadenarbeit, die den auferstehenden Christus darstellt. Aus Wachsresten fertigt er ein Kruzifix, das - unglaublich fein modelliert - die Heilsbotschaft darstellt: Gottvater zu Häupten, das Lamm Gottes zu Füßen des Kreuzes und zahlreiche andere Symbole und Figuren.

Am 23. Januar 1944 stirbt Fritz Wingen in Lublin. Die Leitung des KZ spricht in ihrer Benachrichtigung von Herzschwäche und bietet der Mutter die Übersendung der Urne an. Aber Berta Wingen akzeptiert den Zynismus der Todesmaschinerie nicht. "Der Dreck da drin ist nicht mein Sohn", hat sie einmal gesagt.

Erst am 20. Februar 2005 wurde im Kempener Kulturforum, von Margret Cordt und Werner Beckers erstellt, eine Ausstellung über diesen begabten Sohn der Stadt Kempen eröffnet, den Kempen allzu lange vergessen hatte. Ein Kunstband, liebevoll und aufwändig zusammengestellt, erinnert an ihn (Margret Cordt, Fritz Wingen, 1889-1944. Ein Leben zwischen Kempen und Berlin/Leben und Werk niederrheinischer Künstler, Band 5).

(hk)
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