Serie Stolpersteine Für St. Hubert (1) Tod am Galgen in Schmalbroich

Kempen · Der erste Stolperstein, der seinen Platz in St. Hubert finden soll, erinnert an das Schicksal der osteuropäischen Zwangsarbeiter. Hier die historischen Hintergründe.

 Auf dem Hof von Johann Tenberken in Tönisberg: Arbeiter legen eine Pause ein. Darunter der polnische "Fremdarbeiter" Wladislaw (2.v.l) .

Auf dem Hof von Johann Tenberken in Tönisberg: Arbeiter legen eine Pause ein. Darunter der polnische "Fremdarbeiter" Wladislaw (2.v.l) .

Foto: Heimatverein Tönisberg

St. HUBERT Auch die Nationalsozialisten hatten eine Moral, eine Lehre, die festlegte, was "gut" und "böse" sein solle - aber sie war verbrecherisch und führte zu Leid und Tod von Millionen Menschen. Denn ihr Ziel war, alles zu fördern, was dem deutschen Volk als Verkörperung der "arischen Rasse" nutzte. Umgekehrt galt als moralisch im Nazi-Sinne, alles zu vernichten, ohne jedes Mitleid oder schlechtes Gewissen, was dem deutschen Volk schaden könnte. Heute ist der Begriff der Rasse wissenschaftlich unhaltbar. Zur Klassifizierung von Menschen ist er schon gar nicht geeignet. Aber diese Rassenideologie hat eine furchtbare Wirkung gezeigt: In ihrem Namen wurden die Deutschen dazu aufgerufen, andere Völker zu verfolgen. Ein Beispiel dafür ist der bei St. Hubert gehenkte Czeslaw Macijewski. Weil er Pole war, wurde er der "minderwertigen slawischen Rasse" zugerechnet. Weil man ihm vorwarf, mit einer deutschen Frau intim geworden zu sein - die Nazis nannten das "Rassenschande" - wurde er am 25. Oktober 1941 aufgehängt. Einer von drei Polen, zur Zwangsarbeit ins Gebiet der heutigen Stadt Kempen gebracht, die im Namen der NS-Moral ermordet wurden.

Um den Mangel an deutschen Arbeitern auszugleichen, die Soldat geworden sind, werden ab 1940 polnische Kriegsgefangene und nach Deutschland deportierte Zivilisten als Zwangsarbeiter in der Industrie und der Landwirtschaft beschäftigt. Am 8. März 1940 regeln zehn Erlasse, wie sie zu behandeln sind: So müssen die Polen ein sichtbar zu tragendes Abzeichen an der Kleidung haben; es ist die erste öffentliche Kennzeichnung von Menschen im "Dritten Reich". Ihre Bewegungsfreiheit ist eingeschränkt. Sie dürfen, auch wenn sie Zivilarbeiter sind, nachts nicht ausgehen und keine öffentlichen Verkehrsmittel benutzen. Gaststätten, überhaupt deutsche Veranstaltungen, dürfen sie nicht besuchen. Ihre Entlohnung muss niedriger sein als die der deutschen Arbeiter. Ab 1942 werden Zwangsarbeiter aus der Ukraine nach Deutschland gebracht.

Auf Geschlechtsverkehr mit Deutschen steht für die Osteuropäer die Todesstrafe. Zwei Merkblätter, die sich jeweils an die deutschen Arbeitgeber und die "Fremdarbeiter" selbst richten, sollen die Befolgung der Erlasse sicherstellen und werden massenhaft verteilt. So entsteht ein gut organisiertes System der Unterdrückung. Im Landkreis Kempen-Krefeld werden die Anordnungen bei Versammlungen der Ortsbauernschaften im April 1940 vorgestellt. Auch den Polen werden sie bekannt gemacht. Sie müssen sie mit Unterschrift zur Kenntnis nehmen. Andere Verfügungen kommen hinzu. In einem Rundschreiben vom 23. Juli 1942 ordnet die Ordnungspolizei an, in Fällen von Renitenz sollten die Gendarmen den Polen "eine angemessene Zahl" Stockhiebe verabreichen. In Kempen ist dies die Aufgabe des Polizeimeisters Ludwig Oberdiek.

Der überwiegende Teil der Deutschen, und sicher auch der Kempener, hat das Elend der zwangsweise hierhin gebrachten Menschen damals ignoriert. Der größte Teil der Bevölkerung wusste nicht viel von der Welt außerhalb des eigenen Wohnortes und besaß keine oder unzutreffende Vorstellungen von außerdeutschen Kulturen. Kein Wunder, dass den meisten Menschen die osteuropäischen "Fremdarbeiter" fremdartig erschienen, großenteils auch unheimlich. Man mochte lieber nichts mit ihnen zu tun haben. "Als wir die ersten polnischen Gefangenen sahen, dachten wir: 'Wo kommen die denn her?' ", hat sich Jahrzehnte nach dem Krieg Herbert Füngerlings erinnert. "Wir waren so erzogen, dass wir mit Ausländern nichts anfangen konnten." Und hatte unter der Anspannung des Krieges nicht jeder genug mit sich selbst zu tun? Dazu kam, dass die nationalsozialistische Propaganda Ausländerfeindlichkeit - wenn sie schon vorhanden war - noch förderte. Feindbilder wurden ausgemalt und blieben in vielen Köpfen hängen. Handelte es sich denn nicht um besiegte Feinde oder um minderrassige Arbeitsvölker? Man gewöhnte sich rasch an den Anblick der schlecht gekleideten Menschen, die sich auf dem Weg vom Lager zum Arbeitsplatz über die Straßen bewegten; meist unter militärischer Bewachung, viele von ihnen mit verhärmten Gesichtern. Wie so vieles andere gehörten sie bald zum Kriegsalltag.

Andererseits kam es nach dem Krieg in Schmalbroich, Unterweiden, St. Hubert und Tönisberg zu Ausschreitungen durch befreite "Ostarbeiter", zu zahlreichen Überfällen auf Bauernhöfe, in einigen Fällen auch zur Ermordung deutscher Einwohner. Was als Racheakt, was als schlicht kriminelles Handeln zu werten ist, kann heute nicht mehr entschieden werden.

Es hat aber auch Einwohner gegeben, deren Mitmenschlichkeit der NS-Propaganda standhielt. Wie der Bauer Jakob Thelen, Klixdorf 64. Er sorgt für seine Ostarbeiter - zum Beispiel für den Ukrainer Wladimir Kulisch. Als der auf einen Hof in Gladbeck wechseln muss, schickt Thelen ihm heimlich Fresspakete, was der Gestapo Münster hinterbracht wird. Weil der Klixdorfer gegen das gesunde Volksempfinden verstoße, wird die Ortsbauernschaft Schmalbroich von der Kreisbauernschaft Kempen-Krefeld zu geeigneten Maßnahmen aufgefordert. Daraufhin requiriert die Wehrmacht bei Thelen ein Pferd und sein Auto. Da ist die Witwe Agnes Kleinmanns, Bäuerin auf dem Hof Unterweiden 64. Sie lädt regelmäßig vier Ukrainer - es sind Brüder - zum Mittagessen. Das kriegt der Unterweidener Zellenleiter, der Bahnbeamte Bernhard Klaaßen, mit, und er stellt Agnes Kleinmanns wegen verbotenen Umgangs mit Fremdarbeitern zur Rede. Sie antwortet nur: "Ich hab' auch vier Söhne im Krieg, und ich hoffe, dass die da draußen genauso behandelt werden." Aber der Nazi zeigt sich uneinsichtig, die Bäuerin erhält eine Verwarnung. Es gibt auch Polizisten, die sich um die Menschen aus dem Osten kümmern; wie in Tönisberg der Hauptwachtmeister Heinrich Op de Hipt. Da muss ein Ukrainer, der auf dem Helderhof arbeitet, das neben dem Hof an der B 9 liegende Wäldchen von Dornengestrüpp säubern. Trotz der Winterkälte ist der Mann nur dürftig bekleidet und friert. Op de Hipt weist den Bauern an, ihm wärmere Kleidung zu geben.

Czeslaw Macijewski, für den in St. Hubert ein Stolperstein verlegt werden wird, wurde am 15. März 1915 in Zinolza/Serps in Polen geboren und als Wehrpflichtiger zur polnischen Armee eingezogen. Beim Überfall der deutschen Wehrmacht auf Polen im September 1939 wurde er gefangen genommen und im November nach Deutschland gebracht. Hier wurde er im Winter 1940 auf dem Hof des Bauern Hubert Goetzens in St. Hubert, Escheln 5 (heute: Escheln 1), als "Fremdarbeiter" eingesetzt.

Auf diesem Hof ist seit 1931 die aus Tönisberg stammende Gertrud B. als Hausangestellte beschäftigt. Sie ist unverheiratet. Die beiden jungen Leute - sie ist 25, er 26 - freunden sich an. Um die Jahreswende 1940/41 wird Gertrud B. schwanger - von Macijewski, wie sie sagt. Der leugnet, aber er hat keine Chance, das Verfahren, das die Gestapo eröffnet, zu überstehen. Am 25. Oktober 1941, morgens 8.15 Uhr, wird er auf Befehl des Reichsführers der SS, Heinrich Himmler, in Schmalbroich gehängt. Der Hinrichtungsort lag in der Nähe von Haus Velde im Voescher Wald, vielleicht auch bei Steves Busch.

Zur Vollstreckung des Urteils hat die Polizei alle Polen aus Kempen und Umgebung heranschaffen lassen. Etwa 180 Mann umstehen den Galgen, den der Hausmeister der Düsseldorfer Gestapo gebaut hat. Vor der Hinrichtung wird das Todesurteil vorgelesen. Der Eindruck auf die "Fremdarbeiter" ist entsprechend. Im Gemüsebaubetrieb Maria und Jakob Menskes, Krefelder Weg 9, arbeitet der 18-jährige Pole Stanislas. Nachdem er von der Hinrichtung zurückgekommen ist, muss er sich mehrfach übergeben.

Nachdem sie im September 1941 eine Tochter geboren hat, wird Gertrud B. im Februar 1942 unter dem Vorwurf festgenommen, mit einem Polen intimen Verkehr unterhalten zu haben. Die Gestapo ordnet eine sechsmonatige "Schutzhaft" an und die Überstellung als politischer Häftling in das Konzentrationslager Ravensbrück.

(hk-)
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