Serie Vor 61 Jahren Unglück mit Schienenbus fordert Tote

Kempen · Es ist Mittwoch, 7. März 1956. Auf seiner Fahrt von Krefeld nach Kaldenkirchen hat der rote Schienenbus 2014 um 13.18 Uhr fahrplanmäßig den Bahnhof Kempen verlassen.

 Mit großer Wucht hatte sich am Bahnübergang in Kamperlings ein Schienenbus in einen Lkw-Anhänger gebohrt. Vier Menschen starben bei dem Unfall, 26 weitere Fahrgäste der Bahn wurden verletzt.

Mit großer Wucht hatte sich am Bahnübergang in Kamperlings ein Schienenbus in einen Lkw-Anhänger gebohrt. Vier Menschen starben bei dem Unfall, 26 weitere Fahrgäste der Bahn wurden verletzt.

Foto: Ferdi Sturm

Es ist ein zweiteiliger Zug: An den Triebwagen angekoppelt ist ein roter Anhänger zur Personen- und Gepäckbeförderung. Der VT 95 - so die Seriennummer des Triebfahrzeugs - ist eine Schlichtkonstruktion, mit seinen 90 km/h Höchstgeschwindigkeit eine Art Omnibus auf Schienen. Ein Leichtbau. Das wird seinen Fahrgästen zum Verhängnis.

 Der unbeschrankte Bahnübergang Kamperlings 1953, als hier noch keine Schienenbusse verkehrten. Gerade kommt rückwärts fahrend eine Dampflok mit einem Personenzug in Richtung Kaldenkirchen durch.

Der unbeschrankte Bahnübergang Kamperlings 1953, als hier noch keine Schienenbusse verkehrten. Gerade kommt rückwärts fahrend eine Dampflok mit einem Personenzug in Richtung Kaldenkirchen durch.

Foto: Nachlass Schenk

Kempen Wie immer ist der Zug überfüllt. Zahlreiche Schüler des Kempener Thomaeums sind auf der Fahrt nach Hause, dazu kommen heute die Beamten, die am Mittwochnachmittag traditionell dienstfrei haben, dafür am Samstag arbeiten müssen. Noch kurz vor der Abfahrt sind drei Sextaner in den Triebwagen gestürmt. Einer von ihnen wird zu den Todesopfern gehören.

Der Schienenbus überquert die durch Schranken gesicherten Straßen nach Hüls, St. Tönis und Vorst. Nun ist er auf freiem Feld. Da taucht der Übergang Oedter Straße auf. Bis in den Krieg hinein war er durch Schranken gesichert. Dann wurde aus der Haupt- eine Nebenstrecke, die Schranken verschwanden, und es kam zu gefährlichen Situationen, wenn Passanten das Warnsignal des sich nähernden Zuges überhörten. Erst nachdem im November 1950 die Kempenerin Elisabeth Müller (20) hier ums Leben gekommen ist und 1952 ein vierzehnjähriger Fahrradfahrer sich nur durch einen Hechtsprung vor der heranstürmenden Lokomotive retten konnte, warnt hier eine Blinkanlage, wenn ein Zug kommt.

Manfred Rehnen, pensionierter Polizeibeamter und Eisenbahnexperte, an der Kreuzung des Brahmswegs mit der Oedter Straße: Hier ereignete sich vor 61 Jahren das tragische Unglück mit dem Schienenbus.

Manfred Rehnen, pensionierter Polizeibeamter und Eisenbahnexperte, an der Kreuzung des Brahmswegs mit der Oedter Straße: Hier ereignete sich vor 61 Jahren das tragische Unglück mit dem Schienenbus.

Foto: Wolfgang Kaiser

Der Schienenbus nimmt Fahrt auf, das Vorsignal zeigt Zugführer Emil Irion (59) an, dass die Warnanlage funktioniert. Da sieht er, sehen die kleinen Sextaner und Quintaner, die sich hinter ihm drängen, wie sich von links aus Richtung Oedt ein Lastwagen mit Anhänger nähert. Der bremst aber nicht. Und schon prallt der Schienenbus auf den Anhänger und schiebt ihn noch 40 Meter vor sich her, ehe er aus den Gleisen springt und quer auf Schienen und Bahndamm zum Stehen kommt. Der rote Schienenbus-Anhänger bleibt auf dem Gleis. Ort des Geschehens ist die heutige Kreuzung Brahmsweg/Oedter Straße, links liegt die Kirche St. Josef.

Einwohner der nahen Kamperlingssiedlung haben den Unfall beobachtet. Sie hasten ans Telefon, alarmieren die Polizei. Von ihrer Wache an der Aldekerker (heute: Kerkener) Straße 1 rasen die Schutzleute mit allen verfügbaren Fahrzeugen los. Von der Unfallstelle benachrichtigen sie die Feuerwehr. Sofort heulen die Brandsirenen Katastrophenalarm; aus allen Teilen der Stadt eilen die Feuerwehrleute zur Wache am 1973 abgerissenen Hohenzollernbad, an der heutigen Ecke Burg-/Orsaystraße. Aus Kempen und der Nachbarschaft treffen fünf Krankenwagen mit Ärzten an der Unfallstelle ein. Wenig später kommen weitere Feuerwehrwagen aus Krefeld, Lobberich und anderen Orten in Kamperlings an.

Dort bietet sich den Helfern ein grausiges Bild. Das Vorderteil des Schienenbus-Triebwagens ist völlig zertrümmert, den Raum hinter dem Fahrersitz hat es zusammengeklappt wie ein Kartenhaus. Aus dem Inneren hören sie die Schreie und das Stöhnen der Verletzten. "Ich stand genau hinter dem Triebwagenführer, hielt mich mit der Hand an seiner Sitzlehne fest, als der Unfall geschah", hat Franz-Joachim Hinzmann aus Kaldenkirchen berichtet, damals angehender Finanzbeamter. Bis zum Bau des neuen Kempener Finanzamts an der Von-Saarwerden-Straße war sein Arbeitsplatz das ehemalige Franziskanerkloster. Beim Aufprall hat er das Bewusstsein verloren: "Erst am nächsten Tag wachte ich im Krankenhaus auf. Die Helfer berichteten, ich hätte oft geschrien. Davon weiß ich nichts."

Hinzmann ist zwischen den Trümmern eingeklemmt und wird von der Feuerwehr aus den ineinander gekeilten Blechteilen herausgeschnitten. Er erleidet eine Gehirnerschütterung, vor allem aber einen Trümmerbruch im linken Unterschenkel. Weil er in Lebensgefahr schwebt, erhält er im Hospital zum Heiligen Geist die Letzte Ölung. Erst nach zweijährigem Krankenhausaufenthalt kommt er wieder auf die Beine; in Wuppertal rettet ein Unfallspezialist den Unterschenkel, der zunächst amputiert werden sollte.

Andere verlieren ihr Leben. Der 14-jährige Hans Dieter Paris aus Mülhausen, Kirchstraße 10, ein Schüler des Thomaeums, und der zehnjährige Wilfried Reinert aus Grefrath, Oststraße 15, sind sofort tot. Der Fahrer des Schienenbusses, Emil Irion aus Neuss, stirbt um 16.15 Uhr im Kempener Krankenhaus, wohin man alle Unfallopfer gebracht hat. 40 Minuten später erliegt dort auch der elfjährige Gymnasiast Wilhelm Schmidt aus Kaldenkirchen, Brückenstraße 14, seinen Verletzungen.

Wer in dem lädierten Triebwagen unverletzt geblieben ist, klettert, von Glassplittern übersät, durch die zerborstenen Fensterscheiben nach draußen und macht sich zu Fuß auf den Nachhauseweg. Die Fahrgäste im überfüllten Anhänger des Triebwagens kommen mit geringeren Schäden davon. Im Gepäckabteil hat eine Mutter mit einem Kinderwagen Platz gefunden. Beim Aufprall wird der Wagen durch die Tür des Abteils geschleudert, dem Kind passiert wie durch ein Wunder nichts. Auch Norbert Peters aus Leuth, damals Quintaner des Thomaeums, ist in den Anhänger gestiegen: "Das war mir zu voll da vorne, ich ging nach hinten." Ihm fliegt die Tür des Gepäckabteils ins Kreuz, er gibt nicht viel drauf. Die Beschwerden kommen später. Er muss einige Wochen im Gipsbett liegen.

Wie konnte es zu dem Unfall kommen? Die Blinkanlage war doch intakt. Noch am selben Nachmittag ordnet der Krefelder Staatsanwalt Bauwedel eine gründliche Untersuchung an. Den Fahrer des Lastzuges, der das Gleis vorschriftswidrig überquert hat, lässt er vorläufig festnehmen. Er ist unverletzt geblieben, fährt für eine Essener Firma. Stunden nach dem Unfall will ein Bauzug der Bundesbahnverwaltung Krefeld die Trümmer beiseite räumen, damit der Zugverkehr wieder aufgenommen werden könne. Das verhindert die Polizei, denn die Ermittlungen seien noch nicht abgeschlossen. Ihr Ergebnis: Unglückliche Umstände. "Durch die schräg einfallenden Strahlen der niedrig stehenden Spätwintersonne war das Blinklicht im Augenblick des Unglücks nicht zu sehen", werden später einige Zeugen erklären.

Der tragische Unfall macht landesweit Schlagzeilen. Die Rheinische Post berichtet darüber auf ihrer Titelseite. In einem Kommentar stellt sie die Frage: "Ein unbeschrankter Bahnübergang, was heißt das anders als: Tod ohne Schranken? Da muss sofort etwas geschehen, hier und auf der Stelle." Im Juli 1957 geschieht etwas: Auf das Drängen der Siedlergemeinschaft Kamperlings und der Stadt Kempen hin wird auf dem heutigen Brahmsweg, gegenüber der Kirche St. Josef, der Haltepunkt Kamperlings eingerichtet. Wenn der Schienenbus sich jetzt mit Schrittgeschwindigkeit dieser Bahnstation nähert, ist der Bremsweg so gering, dass selbst bei einem Zusammenstoß kaum etwas passieren könnte. - Vor einigen Jahren hat man das alte Stationsschild dort wieder aufgepflanzt.

Das ist eine örtliche Maßnahme. Eine andere erfolgt bundesweit, allerdings erst Jahrzehnte später: Der Kempener Schienenbusunfall von 1956 ist der erste in einer ganzen Reihe ähnlicher Unglücke; der in Radevormwald von 1971 wird der schlimmste sein. Die Nachfolge-Fahrzeuge der Baureihe 628, ab 1974 im Bau, sind eine komplette Neukonstruktion. Das Chassis und die Einstiege sind höher gelegt, sie enthalten mehr Versteifungsteile und haben flexible Hülsenpuffer. Dadurch sind sie deutlich sicherer als die doch allzu verletzlichen roten Schienenbusse VT 795/798, wie die Bauserie ab 1968 genannt wird.

Der Bahnhof Kempen hat die neuen Fahrzeuge nicht mehr gesehen, denn der Triebwagenverkehr nach Kaldenkirchen wurde eingestellt. Weil der Straßenverkehr die Schiene verdrängte, wurden mehr und mehr Nebenstrecken stillgelegt. Am 21. Mai 1982 trat der rote Schienenbus Kempen-Kaldenkirchen seine letzte Fahrt an. Aber die Schienen blieben zunächst liegen, und das war vor allem der damaligen Situation des Kalten Krieges geschuldet: Die Strecke Richtung Niederlande hätte im Krisenfall strategische Bedeutung gehabt. Denn in der Kaserne Grefrath lag damals eine belgisch-amerikanische Raketen-Flugabwehreinheit zur Bekämpfung russischer Bomber und im Grenzgebiet bei Wankum lagerten die dazugehörigen Atomsprengköpfe. Zudem bot die Bahnstrecke die Möglichkeit, wenn's in Europa brenzlig wurde, aus niederländischen Häfen amerikanische Soldaten zu den US-Depots bei Wankum zu bringen, wo die Ausrüstung für eine komplette Panzerdivision lagerte. Dieser Hintergrund war der Bevölkerung bisher unbekannt und offenbarte sich jetzt erst aus zuverlässiger Quelle bei der RP-Recherche für diesen Artikel.

Jahre später erst wurde die Strecke von Kempen bis Grefrath vollständig zurückgebaut, die ehemalige Trasse dient heute als Fahrradweg. Aber unter dem Fahrradweg blieb das Schotterbett überwiegend erhalten - eben aus den gerade genannten militärischen Gründen, denn im Bedarfsfall hätte man hier durch technische Einheiten schnell neue Gleise legen können. Von Kaldenkirchen nach Grefrath gab es noch lange Zeit Übergabeverkehr für Industriekunden der Deutschen Bahn, beispielsweise für Draftex, den Grefrather Hersteller für Dichtungssysteme in Fahrzeugen. Schließlich wurde im Rahmen des Brahms-Festivals zum 100. Todestag des Komponisten am 18. Mai 1997 ein Teilstück - St. Huberter Straße bis Oedter Straße - in Brahmsweg benannt.

In der nächsten Folge: Für und wider Wilhelm Grobben

(RP)
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