Serie In Dieser Woche Vor 73 Jahren Verkannter Künstler stirbt im KZ

Kempen · Fritz Wingen wurde im Jahre 1889 in Holpe/Kreis Waldbröl als ältester Sohn eines Lehrers geboren. Der Vater ließ sich, um den Kindern eine angemessene Bildung auf einem Gymnasium zu ermöglichen, 1908 nach Kempen versetzen. Dort wuchs Fritz Wingen auf und begann sein künstlerisches Wirken - zunächst im Haus seiner Eltern. Fritz Wingen wurde ein bedeutender deutscher Künstler, blieb aber viele Jahre verkannt. Er starb am 23. Januar 1944 im Konzentrationslager.

 Um geistig und künstlerisch zu überleben, hat Fritz Wingen im KZ auf jede erdenkliche Weise kreativ zu arbeiten versucht. Zu den Bildern aus dieser Zeit gehört auch der aus Stoff- und Wollresten geklebte "Auferstehende Christus."

Um geistig und künstlerisch zu überleben, hat Fritz Wingen im KZ auf jede erdenkliche Weise kreativ zu arbeiten versucht. Zu den Bildern aus dieser Zeit gehört auch der aus Stoff- und Wollresten geklebte "Auferstehende Christus."

Foto: entnommen aus dem Buch von Margret Cordt über Fritz Wingen

kempen Die Kempener Kunsthistorikerin Margret Cordt hat Fritz Wingen ein sensibel gestaltetes Buch gewidmet, in dem sie ihn "einen Menschen von ungewöhnlich reicher Begabung mit einem schwierigen Charakter" nennt. Auf Wunsch des Vaters, der ihm einen "anständigen Broterwerb" vorschreibt, wird er Lehrer, besucht drei Jahre lang das Seminar in Kempen, wo er mit Auszeichnung besteht. Er unterrichtet zunächst in Wickrath und Essen, dann in Neuwerk. Seiner Persönlichkeit entsprechend, entwickelt er kreative Unterrichtsmethoden und setzt sie erfolgreich ein. Aber bei der konservativen Schulbehörde eckt er mit seinen fortschrittlichen Konzepten an. Daher arbeitet er seit 1921 als freier Künstler.

Noch während seiner Zeit als Lehrer haben die Eltern ihm in ihrem Haus Siegfriedstr. 16 ein Zimmerchen als eigenes Atelier zur Verfügung gestellt. Hierhin kann er sich während seiner Aufenthalte in Kempen zurückziehen, um ungestört zu arbeiten. Aber es ist ihm bald nicht ungestört und groß genug. So mietet er sich eine Zeit lang einen Atelier-Raum in der Heilig-Geist-Kapelle am Buttermarkt. Die steht nämlich gerade leer. Hier bringt Wingen, der Autodidakt ist, für seine Studien seine umfangreiche Bibliothek und seine Bildersammlung unter.

Wingen ist zutiefst gläubig. Noch vor Kurzem hat Kempens Kramer-Museum von einem alten Herrn aus Köln vor dessen Einzug in ein Seniorenheim eine Pietà geschenkt bekommen, eine Darstellung der Muttergottes mit dem vom Kreuze herab genommenen Sohn im Schoß, die Wingen 1921 fertigte. 1924 malt er die Kapelle des Knabenkonvikts (des späteren Mädchengymnasiums gegenüber der Burg) in Kempen aus. Daran schließt sich die Ausmalung zahlreicher Kirchenräume fern der heimischen Gefilde an. Schwerpunkt seines Schaffens wird schließlich Berlin.

Fritz Wingen ist ein eigenwilliger Mensch und furchtlos. Auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung (1933) hat er keine Hemmungen, jederzeit für Verleumdete und Verspottete, für Minderheiten und Misshandelte einzutreten. In Berlin denunziert ihn eine seiner Zimmerwirtinnen, weil er ein Hitlerbild aus seinem Zimmer entfernt hat; bei einem anderen Bild übermalt er das Gesicht des "Führers". Wenn er sich in Kempen ungehemmt äußert, schwitzt seine Familie Blut und Wasser. Längst führt die Gestapo eine Akte über ihn. 1939 wird ihm jede künstlerische Arbeit untersagt. Er steht auf der Schwelle zum Zuchthaus - und weiß es nicht. 1940 gerät der temperamentvolle Künstler auf der Rückreise von Linz an der Donau nach Berlin im Zug in eine politische Diskussion mit einem Mitreisenden, der sich dann als SS-Mann ausweist und ihn verhaften lässt.

Zunächst ist Fritz Wingen im Zuchthaus Plötzensee in Berlin inhaftiert - dort, wo man 1944 auf persönlichen Befehl Hitlers die Verschwörer des 20. Juli an Fleischerhaken aufhängen wird; dann wird er nach Sachsenhausen bei Oranienburg gebracht. 1941 wird er nach Polen in das Konzentrationslager Lublin verlegt. Auch hier, den drohenden Tod vor Augen, ist der Kempener seiner Berufung als Künstler gefolgt. Aus Resten von abgelegten Kleidungs- und Uniformstücken, aus ausgezupften Fäden klebt er (mit einem Klebstoff, den er aus Kartoffel-Resten hergestellt hat) eine Fadenarbeit, die den auferstehenden Christus darstellt.

Am 23. Januar 1944 stirbt Fritz Wingen im KZ. Die Lagerverwaltung spricht in ihrer Benachrichtigung von Herzschwäche bei Darmkatarrh und bietet der Mutter die Übersendung der Urne an - aber Berta Wingen lehnt ab, akzeptiert den Zynismus der Todesmaschinerie nicht. "Der Dreck da drin ist nicht mein Sohn", hat sie einmal gesagt.

In der nächsten Folge: "Mit li(e)be(rale)n Grüßen" - von streitbaren FDP-Frauen

(hk)
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