Serie In Dieser Woche Vor 27 Jahren Wie Frauen sich in der Politik engagieren

Kempen · Als Magdalene Fervers und Margarethe Kramer sich Mitte der 1920er-Jahre politisch im Kempener Stadtrat engagierten, waren die Kempener Männer von den außerhäuslichen Aktivitäten dieser beiden Politikerinnen nicht eben begeistert. Als die Stadtverordnete Magdalene Fervers eines Tages wegen einer kurzfristig einberufenen Sitzung ihren heimischen Herd am Burgring 27 verlassen musste, folgte ihr Mann ihr in den Sitzungssaal und fragte sie vor dem versammelten Rat, was denn heute gekocht werden sollte. Eine Anekdote der besonderen Art. Frauen-Power in der Politik ist heutzutage selbstverständlich.

 Das Forum am Kreishaus in Viersen: Hier finden die Sitzungen des Kreistages und seiner Ausschüsse statt. Hier führt die Kempenerin Irene Wistuba nach wie vor auch die FDP-Kreistagsfraktion.

Das Forum am Kreishaus in Viersen: Hier finden die Sitzungen des Kreistages und seiner Ausschüsse statt. Hier führt die Kempenerin Irene Wistuba nach wie vor auch die FDP-Kreistagsfraktion.

Foto: Franz-Heinrich Busch

KEMPEN "Eine Frauenquote in der Politik? Die lehne ich ab!" erklärt Irene Wistuba. Es ist der 2. Februar 1990, und gerade ist die 39 Jahre alte Lehrerin, seit drei Jahren in der FDP, in der Viersener Generatorenhalle als Nachfolgerin von Ulrich Mischke (Willich) mit großer Mehrheit zur FDP-Kreisvorsitzenden gewählt worden. Nun hält sie ihre Antrittsrede, unter anderem über einen Bonus für Geschlechtsgenossinnen. Nein, damit hat sie nichts am Hut: "Ich setze lieber auf Qualität und Leistung." Letzteres ist ihr Lebensmotto. Die erste FDP-Vorsitzende im Kreis Viersen hat bei ihrem Vater, einem selbstständigen Schlossermeister in St. Hubert, früh arbeiten gelernt, hat schon als 14-Jährige die beiden Lieferwagen geputzt und sonntags das Büro. Das Abitur am Abendgymnasium schloss sie mit einem Schnitt von 1,6 ab; ihre Lehrerausbildung absolvierte sie auf dem Zweiten Bildungsweg. Nichts ist ihr in den Schoß gefallen, sie ist eine Selfmade-Frau.

 Irene Wistuba wurde vor 27 Jahren zur FDP-Kreisvorsitzenden gewählt.

Irene Wistuba wurde vor 27 Jahren zur FDP-Kreisvorsitzenden gewählt.

Foto: Doerkes

Irene Wistuba ist keine Emanze, aber eine Frau der Tat, die ihrem Geschlecht durch Leistung den Weg bahnt. Bei der Thyssen Stahl AG in Krefeld war sie die erste weibliche Ausbildungsleiterin. Nachdem sie 1993 aus beruflichen Gründen den Kreisvorsitz wieder abgeben musste, ist sie seit 1999 die erste weibliche Fraktionsvorsitzende im Kreistag in Viersen. Mit Erfolg: 1999 hat sie mit ihrem Liberalen-Team die Zusammenlegung der Volkshochschulen von Stadt und Kreis Viersen durchgesetzt, 2014 die Wiedereinführung der KK-Kennzeichen. Ihre Kreistags-Fraktion ist seit 1999 von zwei auf acht Mitglieder gewachsen. Seit 1992 ist sie als Nachfolgerin des verstorbenen Willy Furth im Kempener Stadtrat, seit 2009 führt sie dort die FDP-Fraktion. Ihre Briefe unterzeichnet sie gern "mit liebe(rale)n Grüßen."

 Mit einem Maulkorb protestierte Ingrid Silbereisen in einer Sitzung für Meinungsfreiheit.

Mit einem Maulkorb protestierte Ingrid Silbereisen in einer Sitzung für Meinungsfreiheit.

Foto: Königs

Denn Wistubas Motto lautet: Politik mit Herz und Verstand. Ihr Schwerpunkt ist die Haushaltspolitik. "Mit Argusaugen schauen wir auf die Steuergelder der Bürger. Immer haben wir die Senkung der Kreisumlage gefordert." Dabei nimmt sie kein Blatt vor den Mund: "Der Landrat war nicht immer amüsiert über unsere teilweisen frechen Anträge und Aktionen." Und als zu Beginn des Jahres 2000 ihre erste Haushaltsrede im Kreistag anstand, fragte sie der zuständige Beamte beim Kreis sehr erstaunt: "Werden Sie die Rede denn selbst halten?" Es schien, als traute er das einer Frau nicht so ganz zu. Wistuba hielt die Rede - und hatte Erfolg.

Kein Blatt vor den Mund nehmen, wenn es um das Gemeinwohl geht. Das war auch das Motto von Ingrid Silbereisen. 1955 kam sie nach Kempen, wo sie von 1968 bis zu ihrem Ruhestand 1990 an der mittlerweile untergegangenen Friedrich-Fröbel-Grundschule unterrichtete. Wo sie sich als Politikerin vor allem in den Bereichen "Soziales", "Ausländer" und "alte Leute" engagierte. Und vehement für die Beachtung demokratischer Spielregeln. Auch vor Gericht.

Zum Beispiel, nachdem am 1. Oktober 1981 der Schulausschuss in nicht-öffentlicher Wahl Jürgen Prüsse (SPD) zum Konrektor der St. Huberter Gemeinschaftshauptschule gewählt hatte. "Die Sitzung war mehr eine Farce als sonst etwas", hat der damalige Redaktionsleiter der Rheinischen Post, Jörg Basfeld, bilanziert. Die Bewerber konnten sich dem Ausschuss erst am Abend der Wahl vorstellen, und da sei, so Basfeld, die Stimmverteilung schon zwei Wochen vorher intern ausgemacht worden. Der Kempener RP-Lokalchef: "Die Wahl wurde dann auch so flott durchgezogen, dass kein Raum zur Aussprache und dem Schulrat keine Zeit zu einem Befähigungsbericht blieb. Von politischer Kungelei hat diese Zeitung in diesem Zusammenhang bereits einmal geschrieben, und das Protestgeschrei war groß." Als Silbereisen sich über die Sitzung und ihren Ablauf auf Anfrage der Zeitungen äußert, belegt der Rat sie wegen Verletzung der Verschwiegenheitspflicht mit einem Ordnungsgeld von 500 D-Mark. Sie klagt - und gewinnt, denn vor der ersten Kammer des Verwaltungsgerichts sagt als Zeuge der CDU-Ratsherr Günther Wronowski aus, er habe, noch bevor Silbereisen an die Öffentlichkeit ging, Informationen an den gescheiterten Kandidaten Wolfgang Sabottke weiter gegeben - was er für seine Pflicht hielt. Sie hatte also nur mitgeteilt, was viele schon wussten. Anderthalb Jahre später erscheint Ingrid Silbereisen im Sitzungssaal des Kreistages, damals noch an der Kempener Burgstraße, mit einem Maulkorb vor dem Mund. Sie sieht die Meinungsfreiheit verletzt. Hintergrund: Oberkreisdirektor Rudolf H. Müller hat wenige Wochen vor seinem Ausscheiden aus dem Amt die Kreisvolkshochschule (VHS) "geköpft". Er hat dem Fachbereichsleiter für Geistes- und Sozialwissenschaften, Klaus-Peter Hufer, fristlos gekündigt und darüber hinaus den bisherigen VHS-Direktor Dietmar Micha seines Postens enthoben: Hufer habe mit Duldung durch Micha dienstliche Anweisungen nicht befolgt.

Das sieht Klaus-Peter Hufer heute noch anders: "Das liest sich so, als sei ich damals ein eigenwilliger Querulant gewesen. Tatsache ist, dass ich die freie Lehrplangestaltung einforderte, wie sie das nordrhein-westfälische Weiterbildungsgesetz garantiert." Schon lange schwelen interne Auseinandersetzungen. Anlass für die jetzt ausbrechende Kontroverse und damit für die öffentliche Diskussion wird, dass Hufer eine Veranstaltung "Richter unterm Hakenkreuz - Justiz im Dritten Reich" durchführen will - mit dem Thomaeum-Geschichtslehrer Walter Weitz als Dozenten - die der Oberkreisdirektor gestrichen hat. Er wollte einen anderen Referenten. Hufer klagt gegen seine Entlassung - und gewinnt. Im Hintergrund stehen offensichtlich grundverschiedene politische Auffassungen darüber, wie die VHS ihre Inhalte auszusuchen und darzustellen habe. Hunderte Kempener, die eine Initiative "VHS ohne Maulkorb" gründeten, haben ihn damals unterstützt. Auch der Personalrat lehnte seine Kündigung ab: mit elf Stimmen und zwei Enthaltungen.

Im Rückblick handelt es sich bei den damaligen heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um Vorgänge, die man nur aus den Zeitumständen erklären kann. Unsere Welt hat sich verändert. Welche historischen Vorgänge auch vor Ort dazu geführt haben, will unsere Serie sachlich darstellen. Fazit: Es hat sich einiges getan, seitdem Kempens erste Stadträtin sich öffentlich an ihre Küchenarbeit erinnern lassen musste.

In der nächsten Folge: Hilfe - die Hessen kommen!

(hk-)
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