Kreis Viersen Wo ein Kinderleben nicht zählt

Kreis Viersen · Polizeihauptkommissar Heiko Lammertz ist von seinem Einsatz im Südsudan bei der UN-Friedensmission zurückgekehrt. Jetzt erzählt er von seinen Eindrücken.

Der Vater tot, die Mutter verrückt geworden. Seit vier Tagen irrte der Junge durch die Stadt, schnüffelte Benzin aus Wasserflaschen und schlief unter Marktständen, als Heiko Lammertz ihm am Straßenrand in der südsudanesischen Stadt Aweil begegnete. Der Polizeihauptkommissar aus Lobberich konnte nicht viel für den Jungen tun, und trotzdem hat ihre Begegnung etwas bewirkt: Ein Kinderschutzhaus für 16 Straßenkinder ist daraus hervorgegangen.

"Das war eines der Erlebnisse, die mir das Wasser in die Augen getrieben haben", sagt Lammertz. Da die eigentliche UN-Arbeit wegen des Bürgerkriegs schwer voran ging, ergriff der Polizist die Initiative und baute ein Kinderschutzhaus in Aweil. In den acht Doppelbetten können bis zu 16 Kinder schlafen. Die Mädchen haben separate, abschließbare Toiletten, denn nicht selten lauern ihnen Männer genau dort auf, um sie zu vergewaltigen. Wie der Junge am Straßenrand hieß, hat Lammertz nie erfahren. "Die meisten Kinder wissen weder ihren Namen noch ihr Alter."

Am 13. Januar ist der Lobbericher von seinem Auslandseinsatz für die United Nation (UN) zurück. "Es war keine schöne Mission, aber eine interessante", sagt der 45-Jährige. Nach einer Erholungsphase hat er nun seinen Streifendienst in Viersen wieder aufgenommen. Er brauchte einige Zeit, um wieder in Deutschland anzukommen: "Ich war am liebsten zu Hause bei meiner Familie. Im Supermarkt war ich allein visuell vom Warenangebot überfordert. Ich musste erst den Rücksack mit allen Erlebnissen auspacken."

Es gibt Erinnerungen, bei denen er immer noch schlucken muss. "Einige Kinder wollten einen gehbehinderten Straßenjungen anzünden und verbrennen, weil er etwas gestohlen hatte. Der Kaufmann, der bestohlen worden war, hatte die anderen Straßenjungen damit beauftragt. Eine UN-Kollegin von mir sah, wie sie ihn mit Benzin übergossen und schrie: Stop, stop", erinnert sich Lammertz. Mit viel Mühe konnten sie den Mord an dem gehbehinderten Jungen verhindern und ihn in Sicherheit bringen. Mit der Rettung aber brachten sie sich selbst in Gefahr. "Straßenkinder sind nicht sehr beliebt, und wir merkten, wie die Stimmung umschlug, gegen uns."

Andere Straßenkinder hat der Kommissar der Kreispolizei Viersen an Typhus sterben, andere verschwanden. "Sie werden als Kindersoldaten an die Grenzen verfrachtet oder als Arbeits- oder Sexsklaven entführt", erzählt Lammertz.

Trotz aller Härte des alltäglichen Lebens hat der Lobbericher auch viele schöne Erinnerungen in seinem Rucksack. "Die Kinder sind einfach nur liebenswert. Sie freuen sich schon, wenn man sie anlächelt, ihnen über die Wange streicht oder einen Spaß mit ihnen macht", sagt der zweifache Familienvater.

Das Jahr im Südsudan war sein dritter Auslandseinsatz im Krisengebiet. Zu seinen Aufgaben für die UN-Mission gehörten die Schulungen von Polizisten und die Aufklärungsarbeit. "Wir sind in Schulen gegangen, haben Kontakt zu Frauengruppen gesucht und Bürgerkomitees gegründet."

Vorträge und Trainings fanden meist im Sitzkreis unter freiem Himmel statt. Nicht selten werden auch so die Kinder unterrichtet. "Die Bäume sind eine Schule. Sie bieten Schutz vor Regen", erklärt der Polizeihauptkommissar zu einem Foto.

Ein wichtiges Anliegen der UN-Kräfte sind die Rechte der Frauen. Massenvergewaltigungen und Zwangsehen sind an der Tagesordnung. "Junge Mädchen werden gegen Rinder eingetauscht. Was für uns Mitteleuropäer gruselig klingt, ist dort in den Stammestraditionen verwurzelt. Deshalb dürfen wir das auch nicht einfach verurteilen."

Neben den bedrückenden Erfahrungen machten den europäischen UN-Kräften auch die Lebensumstände zu schaffen. "Wir hatten 50 Grad Celsius, in Gebäuden ohne Klima-Anlage noch mehr. Zu essen gab es Kartoffeln und Reis, mit etwas Glück ein Stück Huhn oder Ziege dazu." Geschlafen hat Lammertz in einem abgenutzten Container. "Aber er hatte Klimaanlage", sagt der Polizist lachend.

Mit seinen Einsätzen im Kosovo und in Afghanistan hat der Familienvater einige Auslandserfahrung in Krisengebieten vorzuweisen. "Der Kosovo war auch arm, aber es war noch Europa. In Afghanisatan hatten wir weniger Kontakt zur Bevölkerung." Im Südsudan dagegen konnten sich die UN-Kräfte relativ frei bewegen.

Kurz vor seiner Rückkehr ist das Kinderschutzhaus fertig geworden. "Für afrikanische Verhältnisse ging es schnell", sagt Lammertz. Im Juni vergangenen Jahres war der Spatenstich. Das Material musste von weit her transportiert werden. Und das in der Regenzeit.

Der Lobbericher ist froh, dass er dank der 20 000 Euro Spenden vom Niederrhein und dem Verein "Lachen helfen" das Projekt verwirklichen konnte. "Wir haben etwas bewegt. Ich habe etwas da gelassen", sagt der Familienvater. Und seien es 18 Schlafplätze für obdachlose Kinder. "Aweil ist so groß wie Dülken und hat 500 Straßenkinder." Noch am Wochenende hat er mit dem Mitarbeiter, der das Kinderhaus betreut, über Facebook korrespondiert. "Das Haus ist in Betrieb."

Für den Lobbericher war es vermutlich nicht der letzte Auslandseinsatz. "Ich habe 2017 avisiert. Gern wieder nach Afrika."

(RP)
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