Kevelaer 29-Jähriger im Körper eines 75-Jährigen

Kevelaer · Im Selbstversuch hat ein Mitarbeiter unserer Redaktion für eine gute halbe Stunde einen "Altersanzug" getragen, der simulieren soll, wie sich ein Senior mit zahlreichen Gebrechen fühlt. Dies sind seine Erlebnisse.

 Physiotherapeut Hans Tielen und Pflegedirektor Andreas Kohlschreiber helfen RP-Mitarbeiter Christoph Kellerbach beim Treppensteigen.

Physiotherapeut Hans Tielen und Pflegedirektor Andreas Kohlschreiber helfen RP-Mitarbeiter Christoph Kellerbach beim Treppensteigen.

Foto: Gerhard Seybert

Ich werde am Ende des Jahres 30, bin übergewichtig, aber ansonsten anscheinend "jung und fit", wie Hans Tielen, Leiter der Physiotherapie im St. Clemens-Hospital, meint. Ich bin nämlich hier, "damit Sie mal am eigenen Leib erfahren, wie es sich anfühlt, im hohen Alter eingeschränkt zu sein", so Tielen weiter.

Um das zu erreichen, wird mir ein "Alterssimulationsanzug" angelegt: Eine auf Brust und Rücken verteilte Zehn-Kilo-Weste, jeweils fünf Kilo an Gewichten an jedem Fuß sowie noch einmal ein Kilo an jedem Handgelenk. Obendrauf kommen bewegungseinschränkende Schuhe, Gelenkversteifer für Arme und Beine, eine Halskrause sowie Kopfhörer, um das schlechtere Hören zu simulieren. Und eine Brille. Für Letztgenannte gab es verschiedene Typen, die etwa Diabetes oder eine einseitige Netzhautlösung simulierten. Ich entscheide mich für eine, die wirkt, als hätte man einen Grauen Star, weil mein Großvater das auch hatte.

Zuerst scherze ich beim Anlegen noch mit den anderen Anwesenden, wie etwa der Pressereferentin Stefanie Hamm und dem Pflegedirektor Andreas Kohlschreiber. Doch als die "Tremor-Handschuhe" ins Spiel kommen, die Parkinson simulieren, vergeht mir schnell das Lachen. Strom-Blitze durchzucken meine Hände, oder, wie Hans Tielen es wissenschaftlich sagt: "Das funktioniert über elektronische Impulse in den Leitsystemen der Fasern." Schmerzhafte Krämpfe lassen all meine Finger wild zucken, und auch die gröbste Kontrolle gelingt nur durch große Anstrengung. Verdammt.

Die Schüler des Bio-Med-Kurses des Friedrich-Spee-Gymnasiums und viele im Krankenhaus arbeitende Personen haben bereits diesen Anzug erleben können, der "das Verständnis der Leute sensibilisieren soll", so Kohlschreiber. "Auch bei Angehörigen kommt dieser Anzug zur Verwendung, damit diese nachvollziehen können, wie es ihren älteren Familienmitgliedern geht."

Nun effektiv von knapp 30 auf gut 75 Jahre mit verschiedenen Zusatz-Leiden gealtert, geht es erst einmal in den Bewegungsraum, wo mehrere Hürden auf mich warten: ein "belgischer Bürgersteig" mit schief verlegten Pflastersteinen und zwei Matratzen mit weich-instabilem Boden sind für meine eingeschränkten und regelrecht linkischen Bewegungen schon ein regelrechter Parcours. Aber ich bin auch stolz darauf, es schnell geschafft zu haben.

Doch dann passiert es: Wegen eines Telefonanrufes muss Tielen kurz aus dem Raum, die anderen Hospital-Vertreter reden mit unserem Fotografen. Und in dieser Situation, in der ich ansonsten alles mitbekommen hätte, fühle ich mich plötzlich durch meine künstlichen Behinderungen richtig allein und ausgeschlossen. Wegen der Brille kann ich nur sehr verschwommen sehen, und was ich neben den stetig zuckenden Schmerzen in den Händen vielleicht am schlimmsten finde: Durch die Kopfhörer kann ich nur bruchstückhaft verstehen, was um mich herum geschieht und geredet wird.

Ich bin regelrecht erleichtert, als Tielen nach kurzer Zeit wieder vor Ort ist, um mich über Gegenschrägen, wie bei einem Bürgersteig, zu lotsen. Anschließend geht es erst einmal drei Stockwerke lang die Treppen hoch und wieder runter. Als ich ziemlich verschwitzt und abgekämpft wieder in jenem Raum ankomme, in dem die Tortur begonnen hat, bin ich richtig erleichtert. Die letzten beiden Übungen, das Schreiben mit den permanenten Hand-Krämpfen sowie das Herausfummeln eines Schlüsselbundes mit anschließendem Türöffnen lassen mich nur umso mehr den Moment ersehnen, an dem ich wieder "frei" bin.

Als Hans Tielen mir schließlich den Anzug abnimmt, geht gerade an der geöffneten Tür ein altes Großmütterchen vorbei, das sich krampfhaft an ihrem Gehwagen festhält. Als jemand, der zuvor durch den Anzug "nicht ins Alter hineingewachsen, sondern hineingezogen wurde", wie Tielen es so schön formuliert hat, habe ich plötzlich einen Heidenrespekt vor der alten Dame, die sich so unermüdlich auf ihrem Weg abmüht.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort