Kevelaer Johann Leuker ließ der Krieg nie los

Kevelaer · Dutzende Briefe und Postkarten ihres Vaters, Soldat im Ersten Weltkrieg, bewahrt Margret Lörcks aus Kevelaer in einer Kiste auf. Die Schriftstücke sind Zeugen eines Krieges, der vor 100 Jahren die halbe Welt erschütterte.

40 beteiligte Staaten, 70 Millionen Männer unter Waffen, 17 Millionen Militär- und Zivilopfer — schon eine Handvoll Zahlen reicht aus, um die Ausmaße und die Grausamkeit der bis dahin umfassendsten kriegerischen Auseinandersetzung in der Weltgeschichte zu skizzieren: Vor 100 Jahren begann der 1. Weltkrieg, der in viereinhalb Jahren nicht nur ganz Europa in ein Schlachtfeld verwandelte. Auch im damaligen Kreis Geldern, der den südlichen Teil des heutigen Kreis Kleve umfasste, begann mit der deutschen Kriegserklärung an Russland und Frankreich im August 1914 die Mobilisierung der Wehrmacht.

Margret Lörcks aus Kevelaer erinnert sich für die RP an die Erzählungen ihres Vaters Johann Leuker zurück: "Mein Vater wurde eingezogen und kam zunächst zur militärischen Ausbildung nach Berlin." Der junge Soldat, Jahrgang 1893, dient während der vier Kriegsjahre je zweimal an der Ost- und Westfront. Nach einem Lungendurchschuss kommt er zwischenzeitlich in ein Lazarett in Bensheim. Sein Heimatdorf Lüllingen und seine Familie wird Leuker jedoch erst 1920, nach fast drei Jahren französischer Kriegsgefangenschaft, wiedersehen.

Einzige Verbindung zu den Verwandten in der Heimat: die Feldpost. Voller Hoffnung und Bangen warteten die Angehörigen zuhause auf Nachrichten von ihren Männern. Fast jeden Sonntag schreibt Leuker einen Brief. "Nach dem Tod meines Bruders habe ich die vielen Briefe, Postkarten und Bilder an mich genommen", erzählt Margret Lörcks. "Liebe Angehörige!", beginnt jedes Schreiben des Soldaten Leuker. Was folgt, sind Erzählungen aus dem Alltag an der Front. "Kritik oder die Schilderung konkreter Kriegshandlungen war den Männern streng untersagt", weiß Margret Lörcks.

Tatsächlich finden sich auch in den Briefen ihres Vaters Textpassagen, die von einem aufmerksamen Feldpostbeamten mit Tinte unkenntlich gemacht wurden. "Meistens schrieb mein Vater optimistisch und hoffnungsvoll. Trotz der schrecklichen Erlebnisse wollte er nicht, dass sich die Familie zuhause Sorgen machte." So sind das Wetter, die Verpflegung und das Wiedersehen von Bekannten an der Front Themen, die die sonntäglichen Briefe prägen. Natürlich erkundigt sich Leuker auch nach seinen Brüdern, die ebenfalls im Krieg sind. Als sein älterer Bruder fällt, tröstet er seine Familie.

Erst Jahrzehnte nach dem 1. Weltkrieg begann Johann Leuker, von seinen Kriegserfahrungen zu erzählen. "Doch als junges Mädchen und Jugendliche habe ich oft nicht richtig zugehört", ärgert sich seine Tochter heute. Später fand Leuker in seinem Schwiegersohn einen geduldigen Zuhörer. "Im hohen Alter begann mein Vater, auch die heftigsten Erinnerungen auszugraben." 1916 war seine Kompanie in die Schlacht um Verdun verwickelt. In neun Monaten ließen hier ingsgesamt 300 000 deutsche und französische Soldaten ihr Leben, während sich am Frontverlauf kaum etwas veränderte. "Verdun hat meinen Vater nie völlig losgelassen." Einmal habe ihr Vater erzählt, wie er nach schwerem Artilleriebeschuss als einziger Überlebender aus einem Graben kletterte.

Die ehemaligen Schlachtfelder in Nordfrankreich, heute Sinnbild der Schrecken des Krieges, hat Margret Lörcks nach dem Tod ihres Vaters schon einmal besucht. Im Sommer wird sie mit ihren Töchtern und einem Neffen erneut nach Verdun fahren. "Es ist wichtig, diesen Teil der Geschichte nicht zu verdrängen, sondern daraus zu lernen."

Unter Margret Lörcks Erinnerungsstücken an ihren Vater befindet sich auch eine sogenannte "Kriegs-Chronik". Mit solchen Dokumenten wurden nach Ende des 1. Weltkriegs alle Soldaten der Wehrmacht ausgezeichnet. Umrahmt von patriotisch gemalten Reitern, Standarten und dem Reichsadler befindet sich darauf eine genaue Übersicht über die Einsatzorte und -zeiten. Aus heutiger Sicht paradox: Die Verwundung (ein Lungendurchschuss) ist dort als "besondere Auszeichnung" vermerkt.

(riem)
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