"Sturm auf den Brüter" vor 40 Jahren 40.000 demonstrierten in Kalkar gegen Atomenergie

Kalkar · Der "Sturm auf den Brüter" - Sonntag vor 40 Jahren wollten sie angreifen. Ziel von 40.000 Demonstranten der Anti-AKW-Bewegung war die Besetzung des Bauplatzes. Es war auch eine Machtprobe zwischen Staat und einer Ansammlung von Autonomen, Landschaftsschützern, Christen, Wissenschaftlern und linken Aktivisten.

Der "Sturm auf den Brüter" vor 40 Jahren
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Foto: Evers Gottfried

Der amerikanische Schriftsteller Joseph Heller bemerkte einst: "Einige Ereignisse in der Geschichte sind so groß, dass sich selbst diejenigen, die nicht dabei waren, genau daran erinnern." Am 24. September 1977 war so ein Ereignis. An diesem Tag fand die größte Demonstration gegen den Schnellen Brüter in Kalkar statt. Es war ein weiterer Schritt auf dem Weg zu einem langsamen Tod eines unerreichbaren Traums -dem von der gefahrlosen Energiegewinnung durch das Spalten von Atomen. 40.000 Aktivisten waren Ende der 70er Jahre am Kraftwerk und alle führen sie diesen Tag von Kalkar in ihrer Biografie an exponierter Stelle auf. Selbst jene, wie Heller es formulierte, die gar nicht dort waren.

Einer, der unbestritten vor Ort war und den Widerstandsmarsch mit organisiert hat, ist Bruno Schmitz. Der Klever ist heute 70 Jahre alt, Geschäftsmann in der Kulturbranche und ausgestattet mit reichlich Protesterfahrung. Schmitz war ein klassischer 68er. Überall dabei, wo es gegen die Obrigkeit etwas zu demonstrieren gab.

Doch sollte es an jenem Samstag im September '77 nicht bei einer friedlichen Kundgebung bleiben. Etliche militante und bereits aktenkundige Gruppen hatten sich auf den Weg an den Niederrhein gemacht. Im Vorfeld des angekündigten, friedvollen Marschs verging kaum ein Tag, an dem nicht neue Horrormeldungen in der Öffentlichkeit verbreitet wurden, wer da alles in Kalkar aufschlagen werde. Die Bildzeitung ließ keine Zweifel an der Gesinnung der Atomkraftgegner und beschrieb diese mit: "Der harte Kern besteht aus reinen Terroristen, ja sogar Verbrechern."

Homogen war die Gruppe nicht, die Widerstand gegen das in Kalkar gefertigte "Stück Zukunft" leistete. Ständig gehörte die Diskussion über Gewalt zu der Szene wie die Suche nach dem eigenen Gleichgewicht. Heftige Auseinandersetzungen zwischen Zielen und Methoden waren an der Tagesordnung. "Es ging ständig darum, abzuwägen, wie weit man gehen durfte", sagt Schmitz. Den Aktivisten war klar: Kommt es zu Gewalt, tritt das eigentliche Ziel in der öffentlichen Wahrnehmung hinter die Art der Umsetzung zurück.

Aus Sicht von Bruno Schmitz hatte die Anti-Atomkraft-Bewegung bei großen Teilen der Bevölkerung ohnehin nichts zu verlieren. "Wir galten als Kommunisten und RAF-Sympathisanten." Der Klever war Mitgründer der Bürgerinitiative "Stop Kalkar". Seine Protestaktivitäten beschränkten sich jedoch nicht allein auf den Brüter. Gorleben, Brockdorf, Grohnde, Wyhl - Möglichkeiten, sich gegen die riskante Technologie zu wehren, gab es reichlich in der Republik. Schmitz war zu der Zeit noch Lehrer. So fuhr er in den großen Ferien mit Gesinnungsgenossen per Planwagen zum AKW Brockdorf und verteilte auf dem Weg Zettel gegen Atomkraft.

Es gab Phasen, da stand der heute 70-Jährige an jedem Wochenende - auf Krawall gebürstet - vor einem Kühlturm. Teilweise tolerierte er damals einige Maßnahmen, die nicht mit seiner friedensbewegten Grundhaltung in Einklang zu bringen sind. "Nur durch Schilder- Hochhalten erreicht man nichts", sagt er rückblickend. Dort waren Leute aktiv, die versuchten überall dort, wo sie hinkommen, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Den Termin für den "Sturm auf den Brüter" hatte Schmitz sorgsam ausgesucht. "Wir mussten warten, bis die Sommerferien in allen Bundesländern beendet waren." Doch bevor es am Niederrhein zu einer Bauplatzbesetzung kommen konnte, schlug die Staatsmacht zu. Grenzübergänge, große Bahnhöfe wie in München, Hamburg, Stuttgart oder Frankfurt wurden nach potenziellen Gefährdern kontrolliert. Nicht ohne Grund. Bei Teilen der Anti-Atomkraft-Bewegung war der Respekt vor Recht und Gesetz schwach bis gar nicht ausgeprägt. Zudem fielen etliche AKW-Proteste zeitlich mit den RAF-Anschlägen zusammen. Die Republik war nervös, und die Konfrontationen an den Bauzäunen der Kraftwerke wurden härter. Das drohende Chaos von Kalkar sollten 8000 Polizisten und Bundesgrenzschützer aus fünf Bundesländern, es gab damals nur zehn, verhindern.

Einzige Strategie war: Die wehrhafte Demokratie muss Stärke zeigen. Obwohl in Deutschland seit Jahren schon Begriffe wie Deeskalationstaktik die Runde machten. So gab es Einheiten, die sich unter die Aktivisten mischten und kritische Situationen mit Diskussionen zu entschärfen versuchten. Getreu dem Motto: Wer quatscht, wirft keine Steine.

Ein Klever Beamter, der damals an führender Position zum Heer der Polizei gehörte, ist Hans-Jürgen Zacharias (82). Zacharias war zu der Zeit Polizeidirektor des Kreises Kleve. Als der Termin für die Kundgebung bekannt wurde, hatte man ihn aus dem Urlaub geholt. Aus seiner Sicht gab es keine Alternative, als mit dem riesigen Aufgebot die Brüter-Baustelle zu sichern. "Es war der bis dahin größte polizeiliche Einsatz in der Bundesrepublik. Wir hatten damals enormen Respekt. Zu der Zeit formierte sich auch der Schwarze Block", sagt Zacharias. Erfahrungen von blutigen Auseinandersetzungen bei anderen AKW-Demos lieferten weitere Gründe für eine hochgerüstete Polizei.

Noch vor dem Protestmarsch verkündete der Innenminister des Landes Nordrhein-Westfalen, Burkhard Hirsch (FDP), stolz, man habe bereits 40.000 Aktivisten überprüft. Hirsch wollte die "Spreu vom Weizen trennen". So ließ er über Nacht alle Verkehrsknotenpunkte besetzen. Auf den Rheinbrücken standen Polizisten mit Maschinenpistolen im Anschlag. Zacharias erzählt von einem Zug, der auf offener Strecke angehalten wurde. Ein Hinweis, dass 250 bis unter die Zähne Bewaffnete in den Waggons sitzen, führte zu dem Einsatz. "Wir haben im Vorfeld etliches an waffenähnlichen Gegenständen gefunden", so der ehemalige Polizeidirektor. Drahtscheren, Knüppel, Bolzenschneider, Schutzschilder, Gasmasken, Materialien zum Bau von Molotowcocktails... Zacharias ist auch heute noch von der Strategie der Polizei überzeugt. Auch weil die angekündigte Besetzung des Bauplatzes ausfiel. Den harten Kern hatte man größtenteils aussortiert.

Mit Bruno Schmitz hatte Zacharias in der heißen Phase mehrmals Kontakt. So habe dieser sich ständig mit anderen AKW-Gegnern auf einem Gelände in der Nähe des Brüters getroffen. Nach einer Verfügung des Kreises durften sich dort jedoch keine Menschen versammeln. Der 82-Jährige betont, dass auch er damals nicht für die Atomenergie gewesen sei. "Mir ging es allein darum, dass Recht und Gesetz eingehalten werden." Mit dem Altachtundsechziger hat er heute keine Probleme mehr. "Wir treffen uns manchmal im Baumarkt und grüßen einander freundlich."

Für Bruno Schmitz hat sich der jahrzehntelange Kampf gelohnt. Nun freut er sich auf 2022. "In dem Jahr gibt's eine riesengroße Fete, dann wird die letzte Zeitbombe abgeschaltet." Der 70-Jährige hat die Propaganda der Atomindustrie nicht vergessen. "Die haben uns erzählt, dass es höchstens alle 125.000 Jahre einen GAU gebe. Tschernobyl war 1986 und Fukushima 2011. Durch die unbeherrschbare Technologie mussten Menschen sterben und riesige Gebiete sind verseucht", sagt der Klever. Es bedurfte erst mehrerer Reaktorkatastrophen, bevor in Deutschland die Vernunft siegt. Wichtig für Schmitz ist, dass sie überhaupt siegt. Letztendlich ist es zweitrangig, aus welchem Grund die richtige Entscheidung getroffen wird. Denn es ist egal, so der Kommunist Deng Xiaoping, ob die Katze weiß oder schwarz ist - Hauptsache, sie fängt Mäuse.

(RP)
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